Die Neuproduktion von Rossinis Guillaume Tell an der Hamburger Staatsoper in der Inszenierung von Roger Vontobel ist sehens- und hörenswert, wenn auch mit Einschränkungen. Das Opern-Regiedebüt von Roger Vontobel ist mitnichten so gänzlich danebengegangen, wie es die Buhrufe bei der Premiere und vereinzelte Schmähkritiken verhießen. Im Gegenteil, Vontobel demonstriert mit seiner Hamburger Regiearbeit die wesentlichen Eigenschaften guter Opernregisseure, was auch für zukünftige Operninszenierungen zuversichtlich stimmt: Intuition für die Bühnenästhetik, dramaturgisches Fingerspitzengefühl, inhaltliche Deutungsintelligenz und vor allem eines: Mut. Und wer wagt, gewinnt nicht immer, so ist das eben.

Dass Vontobels Operndebüt dennoch nicht ganz gelang, liegt vor allem daran, dass er einfach zu viel will: Zu viel Theater auf der Opernbühne, zu viel inhaltliche Neudeutung des historischen Erzählstoffs, und zu viel formale Ästhetik. So kam der dramaturgische Erzählfluss allzu oft ins Stocken. Vontobels kreative und teils großartige Einfälle gerieten zuweilen zu theatralischen Versatzstücken und seine deutungsschwangeren Bühnenmetaphern zu Abziehbildern, so als würde man eine Filmrolle zu langsam abspielen und auf einmal nur noch Einzelbilder sehen.

Und dennoch: Lenkt man den Lichtkegel auf einzelne Einfälle Roger Vontobels, so erkennt man Vielversprechendes und teils Genialisches: Der Schweizer Regisseur lässt die gesamte Handlung vor Ferdinand Hodlers Monumentalbild Die Einmütigkeit von 1915 abspielen. Mit diesem Wahrzeichen bildender Kunst, das den Schwur zur Lehre der Reformation (1533) zeigt, stellt Vontobel Bezüge zum Rütli-Schwur und damit der Gründungslegende der modernen Schweiz dar, welche Grundlage des Librettos zu Guillaume Tell ist. Vontobel setzt mit seinem Bühnenaufbau die geradlinige Architektur des Zuschauerraums der Hamburger Oper fort, indem er das Halbrund der hell-golden schimmernden Ränge im Bühnenhintergrund spiegelt und ein überdimensionales Abbild von Hodlers Einmütgkeit hinter braunem Malerpapier verkleidet (Bühnenbild: Muriel Gerstner).

Wilhelm Tell ist der Restaurateur, der den wegbröckelnden Nationalstolz der Schweizer Eidgenossen angesichts der Unterdrückung der Habsburger unter dem tyrannischen Jagdvogt Gessler wiederherzustellen sucht. Und dies nicht mit dem nationalistischen Holzhammer wie derzeit leider so häufig in den politischen Parteiprogrammen Europas, sondern ganz subtil mit dem Malerpinsel. Diese Metapher zieht sich als Leitmotiv durch die gesamte Oper, so dass am Ende des zweiten Aktes das Bild Hodlers anlässlich des Treueschwurs enthüllt wird. Gessler lässt es daraufhin schwarz übermalen. Diese erneute Provokation führt dazu, dass die symbolische Darstellung des Bildes aus der Leinwand in die Wirklichkeit geholt werden muss, was in der detailgetreuen Nachbildung des Bildaufbaus durch die Darsteller auf der Bühne gipfelt – wahrlich ein inszenatorischer Geniestreich!

Nachdem dann der Traum von der nationalen Emanzipation Wirklichkeit geworden ist, werden die Habsburger Unterdrücker mit roter Farbe bepinselt und somit wiederum umgekehrt in die geschichtliche Ahnengalerie verbannt. Erwähnenswert ist auch der Einfall Roger Vontobels, die Freiheitskämpfer mit Taschenlampen auszustatten, als die uniformierte Armee der Besatzer mit Maschinengewehren aufmarschiert. Mithilfe der nach oben gerichteten Lampenkegel lässt Vontobel eine gleißende Kathedrale aus Licht entstehen, in deren Mitte Wilhelm Tell die Hand zum Kampfe reckt, sodass unweigerlich Leni Riefenstahls Inszenierungen von Hitler-Paraden vor dem geistigen Auge erscheinen.

Nach dem Treueschwur der Eidgenossen am Ende des zweiten Aktes begegnen sich Arnold und Mathilde von Habsburg, deren Liebe aufgrund ihrer jeweiligen Zugehörigkeit zu den verfeindeten Lagern verdammt ist, in einer abgelegenen Kapelle, und stimmen eines der schönsten Liebesduette der Opernliteratur an. Während die Regie übertrieben kitschig Schneeflocken vom Opernhimmel rieseln ließ, erlebte das Publikum den musikalischen Höhepunkt des Abends. Yosep Kang (Arnold) und Guanqun Yu (Mathilde) intonierten mit ihren jungen, biegsamen Stimmen erfrischend heiter und doch nie oberflächlich die herrlichen Kantilenen. Dass Kang einige wenige Male fast unhörbar die Stimme brach, störte keineswegs angesichts dieser eindrücklichen Demonstration fast perfekt geschliffener Sangeskunst.

Nicht mehr ganz so jung und flexibel dagegen tönte Sergei Leiferkus in der Titelpartie des Guillaume Tell und auch Kristinn Sigmundssons Bass (Melchthal) dröhnte zwar imposant, jedoch nicht immer klangschön. Christina Gansch hingegen überzeugte als Gemmy durch dramatische Ausdruckskraft sowohl stimmlich als auch schauspielerisch. Das Philharmonisches Staatsorchester Hamburg unter dem erfahrenen Dirigat des Italieners Gabriele Ferro stimmte beherzt und gleichzeitig sensibel die mit höchst diffizilen Solopassagen gespickte Partitur Rossinis an und trug wesentlich dazu bei, das qualitätsverwöhnte Hamburger Opernpublikum trotz der Unzulänglichkeiten bei Regie und sängerischer Präzision letztendlich mit einem gelungenen Opernabend zu versöhnen.

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