Angesichts der gegenwärtigen Weltpolitik könnte man meinen, Nora Schmid hätte bei der Programmgestaltung einen Blick in die prophetische Kristallkugel geworfen, fand doch die Premiere und Grazer Erstaufführung von Bohuslav Martinůs Oper Die Griechische Passion nur zwei Tage vor dem bislang letzten EU-Flüchtlingsgipfel statt. Ein griechisches Dorf, Flüchtlinge und soziale Spannungen – aktueller kann ein Opernstoff eigentlich gar nicht sein.

Umso erfreulicher, dass Regisseur Lorenzo Fioroni weniger auf schockierende Bilder und den Bezug zur Gegenwart setzt, sondern zeitlose Probleme thematisiert. In einer Art Endzeitkulisse mit Beton-Ei(-Felsen) treffen moderne Menschen auf Gestalten, die einer biblischen Zeit entsprungen zu sein scheinen, woraufhin das Aufeinanderprallen von Besitz und Armut, des Vertrauten mit dem Fremden sowie die komplexen Mechanismen einer Gesellschaft, die sich ein Feindbild erschafft, vor Augen geführt werden. Diese Lesart bebilderte Martinůs Musik ideal und räumte ihr ohne abzulenken den Platz und die Aufmerksamkeit ein, die sie verdient.

Die Griechische Passion bietet eine unglaublich reiche musikalische Sprache in einem Stil, der zwischen epochal und schlicht pendelt, der gesprochene Dialoge mit herrlichen Gesangspassagen verbindet und der harsche Zerrissenheit ebenso auszudrücken vermag wie süße Melodik. Dazu kommt die Kombination von weltlichen und kirchlichen Klängen, Elemente der orthodoxen Kirchenmusik sowie folkloristische Anklänge. Jedem dieser Aspekte der vielschichtigen Partitur widmete Dirk Kaftan am Pult des Grazer Philharmonischen Orchesters die nötige Aufmerksamkeit, sodass stellenweise orchestrale Wuchten das Opernhaus beinahe überfluteten und dann wiederum auch den leisesten Flötenklängen Raum gegeben wurde. Präzise aufeinander eingespielt bewies das Orchester einmal mehr in dieser Saison, dass sich seine Musiker/innen gerade bei Musik fernab des Mainstream-Repertoires besonders wohlzufühlen scheinen. Mit hörbar hoher Motivation und Konzentration changierten sie präzise zwischen Martinůs in Musik gegossenen kraftvoll zupackenden und dann wieder lieblich-emotionalen Gefühlszuständen; Kaftan sorgte dabei stets für die ideale Koordination von Orchester, Solisten und immerhin drei Chören.

Zusätzlich zum Chor der Oper Graz kamen nämlich der Extrachor und der Chor der Grazer Kunstuniversität zum Einsatz, die den schwebenden, monumentalen Klang und die an Gottesdienste erinnernden entrückten Passagen zu einem Ereignis machten. Außerdem ermöglichte erst diese große Chorbesetzung die Massenszenen und das Aufeinandertreffen der in moderne Alltagskleidung gehüllten Dorfbewohner mit den biblisch anmutenden Fremden, was auch optisch Eindruck machte. Monumental ist überdies auch die schiere Anzahl an solistischen Rollen, standen doch ein Erzähler und 20 Gesangssolisten auf der Bühne.

Den Manolios, dem im Passionsspiel die Rolle des Christus zugewiesen wird, verkörperte Rolf Romei zunächst mit der nötigen Portion Zurückhaltung in der Darstellung sowie schönen Phrasierungen und lyrischem Schmelz in der Stimme. Als Manolios sich im Laufe der Handlung jedoch immer stärker mit der Figur des Jesus zu identifizieren beginnt, steigerte sich auch die Dramatik von Romeis Interpretation bis hin zur totalen Selbstaufgabe, die er eindrücklich mit kraftvollen Höhen und verzweifelter Färbung vor Ohren führte. Dass bei diesem Kraftakt gelegentlich die Stimme etwas zu wackeln schien, störte keineswegs, denn dieser Eindruck unterstützte die Verkörperung des Mannes nur, der zuerst fast an seiner Rolle zerbricht und schließlich von der aufgehetzten Menge gemeuchelt wird.

In darstellerischer Dramatik und vokaler Entäußerung stand ihm Dshamilja Kaiser als Katerina, der die Dorfgemeinschaft die undankbare Rolle der Sünderin Maria Magdalena auferlegt, in nichts nach. Von innigen Phrasen voller Liebe zu Manolios über hingebungsvolles Mitleid mit den Geflüchteten bis hin zur totalen Verzweiflung schattierte sie ihre Stimme stets passend und konnte vor allem mit den strahlenden Höhen ihres runden Mezzos und emotionsgeladenen Piani tief berühren.

Den fiesen und scheinbar völlig gefühllosen Priester Grigoris zeichnete Wilfried Zelinka zwar nicht unbedingt mit dunkler Dämonie, aber dafür mit solcher Eiseskälte in seiner herrlich strömenden Stimme, dass es einen regelrecht fröstelte. Sein gutherziges Pendant, Priester Fotis, war an diesem Abend gleich doppelt besetzt: Markus Butter konnte aufgrund einer Erkrankung den Mann Gottes im Moses-Outfit nur verkörpern, die Stimme lieh ihm Baurzhan Anderzhanov von der Seite der Bühne. Begann Anderzhanov noch mit deutlicher Vorsicht und etwas angestrengtem Timbre, wurde er im Laufe der Vorstellung immer lockerer und souveräner, sodass das Publikum schließlich in den vollen Genuss seiner warmen und in allen Lagen ausdrucksstarken Stimme kam.

In den kleineren Rollen konnte etwa Manuel von Senden als ehrlich reumütiger und hell timbrierter, intelligent phrasierender Yannakos überzeugen; Tatjana Miyus gab die verzweifelt um ihren Verlobten Manolios kämpfende Lenio mit gläsernem Ton und nachdrücklicher Bühnenpräsenz. Und auch die übrigen Rollen waren durchwegs sehr gut besetzt.

Wie die Oper Graz mit drei Chören, 20 Solisten und dem Orchester unter Dirk Kaftan Bohuslav Martinůs Mammutwerk nicht nur stemmte, sondern das Publikum durchgehend in seinen Bann zog, war tatsächlich beeindruckend. Dass das Interesse – in der besuchten Vorstellung blieben auch im Parkett viele Plätze leer – im Laufe der Spielserie noch zunimmt, ist allen Beteiligten wirklich zu wünschen, denn eines sei jenen, die nicht hingehen, gesagt: Ihr verpasst etwas!

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