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Bühne und Konzert Große Oper

Nicht überall, wo Russland ist, ist Putin

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Singen fürs Weltreich: Bryn Terfel (rechts) als Boris Godunow in London Singen fürs Weltreich: Bryn Terfel (rechts) als Boris Godunow in London
Singen fürs Weltreich: Bryn Terfel (rechts) als Boris Godunow in London
Quelle: ROH. PHOTOGRAPH BY CATHERINE ASHMORE
Das Rad der Geschichte zermalmt sie alle: In London läuft Mussorgskys „Boris Godunow“, in Amsterdam wird „Chowanschtschina“ gezeigt. Zwei historische Opern zum heutigen Russland. Ganz ohne Putin.

Seltener Fall, in doppelter Hinsicht: Da spielen zwei bedeutende Opernhäuser innerhalb von drei Tagen „Boris Godunow“ und „Chowanschtschina“, die beiden Geschichtsbilderbogen-Großwerke, in prestigeträchtigen Neuinszenierungen, und weder steht Wladimir Putin als der ewige Neozar auf der Bühne noch wird aus allen Kalaschnikowrohren geschossen.

Man besinnt sich vielmehr auf die bahnbrechende Historizität dieser visionären Stücke – und lässt so umso deutlicher die Gegenwart durchscheinen. Freilich ist dabei die jeweilige Interpretationsrichtung gegensätzlich. In Mussorgskys „Boris Godunow“, den Richard Jones am Royal Opera House in Covent Garden herausgebracht hat, der am Montag weltweit in den Kinos live zu bestaunen ist und nächstes Jahr von der Deutschen Oper Berlin übernommen wird, herrscht konzentrierte Vergangenheit. Sie ist plakativ comicbunt grell, erinnert aber auch an Ikonenmalerei.

Immer wieder wird als motivischer Cantus firmus in Miriam Buethers Einheitsraum in der darüber hängenden Goldwölbung der von Boris Godunow befohlene Mord am unmündigen Thronfolger Dmitri exerziert: Einem mit einem Kreisel spielenden Kind mit fratzenhaftem Plastikmaskenkopf wird von drei vermummten Schergen die Kehle durchgeschnitten. Der Kreisel als Symbol einer sich ewig weiterdrehenden Kinderspielwelt, die freilich auch schnell zertreten werden kann, überdreht, wahnsinnig wird.

Wer stirbt, verstummt einfach

Unter dem Steg ereignet sich die Tragödie des neuen Zaren, der an Macht und Schuld gleichermaßen zerbricht. Das wird fast moritatenhaft simpel erzählt, fokussiert sich ganz im minimalistisch präzisen Spiel und dem sein Publikum fast aufsaugend suggestiven Gesang Bryn Terfels. Der berühmteste Bassbariton der heutigen Sängerwelt hat seinem Stammhaus ein weiteres, großartiges Rollendebüt geschenkt. Wobei dieser Boris eben kein röhrender Baumstamm ist, sondern eine getriebene, sensible Seele, mit dem Mut zu leisen Tönen und zur schlank gehaltenen Stimme. Mögen andere prunken und protzen, ihren Schmerz, ihre Wut, ihren Stolz und ihren Zorn nach außen tragen, Terfel muss sich nur auf dem Thron krümmen, gequält stöhnen – und alles hängt an seinen Lippen.

„Chowanschtschina“ in Amsterdam
„Chowanschtschina“ in Amsterdam
Quelle: Monika Rittershaus

Immer verwuschelter und grauer wird sein Haar im Lauf der nur zwei Stunden dauernden Urfassung, die sich mit ihren sieben Bildern vom Herrscheraufstieg und -fall inzwischen weltweit durchgesetzt hat. Ein Mann außer sich in einer aus den Fugen geratenden Weltordnung. Wenn er stirbt, verstummt er einfach. Umso erschreckender, wenn den Stillen sein Sohn antippt und er umfällt wie ein totes Stück Holz.

Nomenklatura und Priester hat Nicky Gillibrand in glühende Gewänder gekleidet, das Volk aber, neben Boris die eigentliche Hauptpartie der Oper, manipulierbar, begeisterungsfähig, resignativ, schlurft und rennt in schwarzgrauen Klamotten, unter denen immer heutige Kleider stecken. Politprozesse in Russland, eine nicht abreisende Szenenfolge.

Von Fürsten und Fanatikern

Das wird auch schnell an der Niederländischen Oper in Amsterdam klar, wo Christof Loy bei der posthum von Rimksi-Korsakow, später auch von Strawinsky und Schostakowistsch bearbeiteten „Chowanschtschina“, den „Schweinereien des Fürsten Chowanschtschi“ sein so kaltes wie präzises Regieseziermesser ansetzt. Auch er mag natürlich nicht das statisch, schwerfällige, kostümprunkende Tableau, als welches dieses Stationendrama lange präsentiert wurde.

Loy baut zunächst trotzdem genau das auf, als doppeltes Zitat. Hinten, in Johannes Leiackers mal schmucklos weiß, mal purschwarz über Eck gestelltem Raum, hängt farbenprunkend Wassili Iwanovitsch Surikows berühmter Historienschinken „Am Morgen der Hinrichtung der Strelizen durch Zar Peter I.“ aus der Moskauer Tretjakow-Galerie, und vorne wird genau dessen raffinierte Anordnung inklusive totem Pferd von sämtlichen Mitwirkenden nachgebildet. Aber nur, um gleich aus dem lebenden Arrangement auszusteigen und die vergangene Handlung als nüchtern heutiges, ungemein fesselndes Intrigenspiel beginnen zu lassen.

Darin geht es wie immer: um Ambition und Verrat, Liebe und Enttäuschung, Glaube und Fatalismus. Fürsten und Fanatiker, das Rad der Geschichte zermalmt sie alle. Zurück bleiben Kerzen als Erinnerung, während die Menschen längst wieder als stoische Kleiderpuppen in ihr Anfangsbild zurückgekehrt sind.

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