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Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Matthias Jung

Aktuelle Aufführungen

Rachefeldzug im Schlachthaus

ELEKTRA
(Richard Strauss)

Besuch am
19. März 2016
(Premiere)

 

 

Aalto-Musiktheater Essen

Richard Strauss und das Aalto-Theater Essen bildeten durch die anhaltenden und glänzenden Leistungen des ehemaligen Chefdirigenten Stefan Soltesz über 15 Jahre hinweg einen Zweiklang von ungetrübter Harmonie, mit dem die Essener Oper regelmäßig auf überregionales Interesse gestoßen ist. Seit dem nicht ganz friedlichen Abgang des verdienten Dirigenten muss es auch ohne Soltesz gehen. Und die jetzige Premiere der düsteren Atriden-Tragödie Elektra zeigt, dass man sich zumindest gesanglich und orchestral um die Zukunft der Essener Strauss-Tradition nicht sorgen muss. Zusammen mit einem überwältigenden Bühnenbild setzt die neue, in Koproduktion mit der Opera Vlaanderen Antwerpen entstandene Inszenierung Maßstäbe.

Schade, dass Regisseur David Bösch, der als Schauspielregisseur in Essen und Bochum seine internationale Karriere startete, die Chancen nur teilweise nutzt, die ihm die Bühnenbildner Patrick Bannwart und Maria Wolgast bieten. Der riesige Bühnenraum ist als Badehaus konzipiert, das, vor Blut triefend, eher an eine Metzgerwanne erinnert. Gehäutete Opfertiere hängen von der Decke herab. Ein blutverschmiertes Schlachthaus, das den Figuren die Luft zum Atmen nimmt. Zappelnd, kriechend und ausgleitend vegetieren sie auf schleimigen Blutspuren, eingeschlossen in einen Tresor, der die Ausweglosigkeit des fluchbeladenen Atriden-Personals sinnlich spüren lässt.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Irritierend wirken auf den ersten Blick kleine Kinderstühle, Kerzen, Familienbilder aus besseren Tagen und allerlei Spielzeug. Ausgangspunkte des szenischen Konzepts von David Bösch, den die Rachegelüste der Titelfigur vor allem unter dem Aspekt einer traumatisierten Kindheit interessieren. Elektra versucht bei ihm, die Kindheit wachzuhalten, um ihre Rachegefühle stählen zu können. „Papa, where are you?“ steht an der Rückwand geschrieben. An sich ein diskutabler Ansatz, bewegt sich doch der gesamte Rache-Komplott im Umfeld der Familie, also der Mutter, des Stiefvaters und der Geschwister. Allerdings nimmt Elektra selbst immer wieder das Gebaren des Kindes an und entzieht dadurch ihrer sich immer brutaler zuspitzenden Entwicklung die nötige Schärfe. Sie spielt lieber mit den aufbewahrten Relikten aus ihrer Kindheit als mit dem Rachebeil, das sie Orest zu geben vergisst. Im Gegenteil: Wenn sie zu den martialisch-bedrohlichen Tanzrhythmen der Musik wie ein kleines Mädchen herumhopst anstatt in ihren Rachefantasien an Größe zu wachsen, geraten manche Szenen in die Nähe zur unfreiwilligen Karikatur. Die Bühnenwirksamkeit ihres Todestanzes federt Bösch dadurch ab, dass die Titelheldin nicht in entrückter Ekstase tot zusammenbricht, sondern sich prosaisch die Kehle durchschneidet. Und Orest bringt sich gleich mit um. Eine Lösung, zu der Strauss nicht den symphonischen Tsunami hätte entfachen müssen, der auf die Hörer des Finales wie eine entfesselte Druckwelle einbricht.

Foto © Matthias Jung

Ansonsten führt Bösch die Figuren gediegen und professionell. Während Orest allerdings völlig profillos bleibt und nur als wesenloses Werkzeug Elektras in Erscheinung tritt, erinnert Böschs Klytämnestra an die edle Herkunft der Figur, die zwar noch über Leben und Tod am Hof gebieten kann, in ihrem selbst errichteten Gefängnis jedoch von unsichtbaren Gewalten an Marionettenfäden gesteuert wird. Auch sie sieht Bösch eher in einer Opferrolle, so dass die beiden weiblichen Schlüsselfiguren ein interessantes psychologisches Profil erhalten, in ihrer passiven Umdeutung aber an Bühnenwirksamkeit verlieren.

Dass man damit leben kann, dafür sorgt die musikalische Darstellung. Tomaš Netopil am Pult der gut disponierten Essener Philharmoniker vernachlässigt bei aller Explosivkraft der Musik nicht die feinen, lyrischen und extrem raffiniert angerührten Töne der Partitur, so dass die Sänger bis zum jeden Rahmen sprengenden Finale ausreichende Chancen haben, sich ohne Forcieren gegen das Orchester durchsetzen zu können. Davon profitieren nahezu alle großen Szenen, die Netopil über weite Strecken mit fast kammermusikalischer Sensibilität begleitet.

Die Sänger danken es ihm. Nicht nur das homogene Mägde-Quintett, sondern auch die Protagonisten. An der Spitze Rebecca Teem in der Titelrolle, die die weite Tessitura der Partie mit warmer Tiefe und mühelosen Spitzentönen grandios bewältigt und die zerrissene psychische Struktur der Rolle beeindruckend zum Ausdruck bringt. Eine ausgereifte Leistung auf der Höhe ihres Könnens, mit der sie ihre Erfolge als Brünnhilde in Essen und als Isolde in Dortmund noch überbieten kann. Auch Katrin Kapplusch überzeugt als Chrysothemis mit einer Rollenstudie, die sogar Raum für mädchenhaft zarte Töne lässt. Im Finale, in dem Strauss alle klanglichen Schleusen öffnet, werden freilich auch die Grenzen ihrer Stimme hörbar.

Eine Klytämnestra, der man ihre noble Herkunft ansieht und anhört, verkörpert Doris Soffel, die mit ihren immerhin schon 67 Jahren noch über eine intakte Stimme verfügt und damit nicht, wie viele ihrer meist stimmlich schon überforderten Rollen-Kollegen, die Gebrochenheit der Figur lediglich spüren, aber nicht hören lässt. Gegenüber dem starken Damen-Terzett hat Almas Svilpa wenig Gelegenheit, sich als Orest wirkungsvoll in Szene zu setzen. Das liegt natürlich auch an der Partitur und erst recht an der Inszenierung. Dennoch hätte man in der großen Begegnungsszene mit der rachsüchtigen Schwester ein wenig mehr baritonale Wärme erwarten können. Ohne Fehl und Tadel sind die kleineren Rollen besetzt, so dass die Essener Elektra als musikalischer Trumpf gewertet werden kann.

Der Beifall des Premieren-Publikums fällt kurz, aber sehr heftig aus. Buh-Rufe gibt es nicht. Wofür auch?

Pedro Obiera