Seekrank auf den Tod

Mariusz Trelinski deutet Wagners «Tristan» psychoanalytisch als ein Geschehen, das sich aus alten Verletzungen ergibt. Doch die Hauptrolle spielt das Orchester unter Simon Rattle. Die Sänger haben das Nachsehen.

Peter Hagmann
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Multimedialer Liebesrausch mit vorfreudschen Abgründen: «Tristan und Isolde» im Festspielhaus Baden-Baden. (Bild: Monika Rittershaus)

Multimedialer Liebesrausch mit vorfreudschen Abgründen: «Tristan und Isolde» im Festspielhaus Baden-Baden. (Bild: Monika Rittershaus)

Was hat man sich aufgeregt – damals, zwischen 2007 und 2010, als die Osterfestspiele Salzburg Richard Wagners «Ring des Nibelungen» herausbrachten. Nicht die Inszenierung von Stéphane Braunschweig war Gegenstand der Debatte, der Ärger, zumal jener der Wiener Presse, galt den Berliner Philharmonikern und ihrem Chefdirigenten Simon Rattle. Was in dieser Produktion aus dem Graben töne, habe mit Oper oder Musiktheater wenig zu tun; vor lauter Selbstdarstellung des Orchesters sähen sich die Sänger zu Statisten abgewertet. Das war in der Beurteilung falsch, als Beobachtung aber richtig. Tatsächlich spielte Rattle das sagenhafte Potenzial des Orchesters voll aus: Wagners «Ring» wurde in dieser Produktion zu einer sinfonischen Dichtung mit Singstimmen, was im Hörerlebnis ungewohnt erschien, der Partitur jedoch in hohem Mass entspricht. Bei «Tristan und Isolde» kommt dieser Ansatz nun erneut zur Geltung.

Hören und Schauen

Jedenfalls gehört bei der diesjährigen Produktion der Osterfestspiele Baden-Baden die Hauptrolle ganz und gar dem Orchester. Schon im Vorspiel zum ersten Aufzug ist zu hören, wie exakt der instrumentale Satz durchleuchtet und im Inneren belebt, wie also auf fast kammermusikalische Transparenz hingearbeitet wird. Zugleich steht das berühmte Vorspiel aber im Zeichen einer Farbenpracht, einer klanglichen Opulenz und einer Kraft, wie sie so nur dieses Orchester zu realisieren vermag. Das ist die Basis, auf der Rattle Bögen zu spannen weiss, welche die Weite dieser Musik ungeschmälert spürbar werden lassen.

Kein Wunder, pocht der Regisseur Mariusz Treliński da auf seine Rechte. Das Video von Bartek Macias, das er der Musik Wagners an die Seite stellt, zeigt ein mächtiges Kriegsschiff, das sich durch schweren Seegang kämpft. Gedacht ist das vielleicht für die Zuschauer unter den Zuhörern. Dass es im Inneren des Schiffs nicht weniger stürmisch zugeht, wird gleich anschliessend deutlich. Das dreistöckige Bühnenbild von Boris Kudlička bietet Einblick ins Innere des Kriegsschiffs aus dem Video; auf der Kommandobrücke herrscht Tristan, im Folterkeller hängt einer mit blutig geschlagenem Oberkörper in einem Stuhl – es ist Morold, der bekämpfte Bräutigam Isoldes, der von Tristan, als wäre er ein anderer Don Pizzarro, mit einem Pistolenschuss ins Jenseits befördert wird.

Treliński deutet Wagners «Handlung in drei Aufzügen» psychoanalytisch als ein Geschehen, das sich aus zurückliegenden Verletzungen ergibt. Wie auf dem Bildschirm mit seinen Windows wird an verschiedenen Stellen des Bühnenbilds an die Vergangenheit Tristans erinnert, an seine durch die blutende Wunde symbolisierten Schuldgefühle, die der Tod des Vaters bei seiner Zeugung und jener der Mutter bei seiner Geburt, aber auch die begangene Mordtat in ihm erzeugen. Dass vor diesem Hintergrund eine Liebesbegegnung nur als unerreichbares Ideal denkbar ist, liegt auf der Hand.

Unmusikalische Bühne

Als Zugang zum Stoff ist das nicht uninteressant, zumal Wagner in den virtuos geführten Dialogen seiner Bühnenwerke durchaus vorfreudsches Bewusstsein erkennen lässt. Die Bühne hat jedoch einen entscheidenden Nachteil: Sie ist unmusikalisch. Die Darsteller sind derart in die Höhe und die Tiefe des Bühnenraums versetzt, dass sie keine vokale Präsenz zu gewinnen vermögen. Also untergehen – denn auch Simon Rattle kennt keine Gnade. Als Brangäne bleibt Sarah Connolly mit ihrem warmen Mezzosopran nur in Umrissen hörbar, während Eva-Maria Westbroek als Isolde schon im ersten Aufzug ihre Stimme derart drückt, dass ihr ohnehin starkes Vibrato seinen Kern verliert und sich die Tonhöhen im Irgendwo verlieren. Bei der von Halbtonschritten geprägten Chromatik in Wagners «Tristan» ist das fatal.

So gerät auch das grosse Duett «O sink hernieder, Nacht der Liebe» im zweiten Aufzug zu einem peinlichen Schiffbruch. Das freilich auch darum, weil der Regisseur im zweiten Teil des Duetts unvermittelt den Vorhang fallen und per Video kitschige Landschaftsaufnahmen und Sonnenaufgänge zeigen lässt – ein Missgriff der gröberen Art.

Überhaupt ist die Produktion, die an die New Yorker Met, ans Warschauer Teatr Wielki und ans Centre for the Performing Arts in Peking weitergegeben werden soll, durch eigenartige Inkonsistenzen gekennzeichnet. So anregend sie nach einer greifbaren Deutung strebt, so mühsam verheddert sie sich immer wieder in opernhafter Konventionalität. Nachdem der fatale Trank durch die Kehlen von Tristan und Isolde geflossen ist, kommt es beispielsweise zum branchenüblichen Stöhnen und Händeringen. Und in den Figuren selbst scheinen schwer erklärbare Risse auf. Szenisch erscheint Isolde als starke Frau, die auch austeilen kann, zum Beispiel an Kurwenal, der für seine Unfolgsamkeit eine handfeste Ohrfeige empfängt. Stimmlich aber bleibt sie schlicht ungenügend; die Stärke klingt erzwungen.

Umgekehrt Stuart Skelton, der die höllische Partie des Tristan aus scheinbar unerschöpflichen Reserven heraus stemmt, sich in keinem Augenblick schont und dennoch seine Strahlkraft (und seine hervorragende Diktion) bis zum Schluss bewahrt. Als Mann ist er jedoch von Anfang an ein Fragezeichen: ein Verwundeter, der sich in einer majestätischen Uniform versteckt (die Kostüme stammen von Marek Adamski). Als ihm im zweiten Aufzug von dem samten klingenden, doch trotz weisser Uniform schwarzbösen König Marke (Stephen Milling) die Ehrenzeichen von der Jacke gerissen werden, fällt er in sich zusammen; es bleibt ihm nichts mehr als der suizidale Stich ins eigene Herz – Melot (Roman Sadnik) kommt hier nicht zum Einsatz.

Zugespitzt auf die Moderne

Das erfüllt sich im dritten Aufzug, dessen Beginn ganz vorzüglich gerät. Das (leider erneut bebilderte) Vorspiel trägt unglaublich vibrierend auf, und Michael Nagy ist ein grandios klangvoller, auch witziger Kurwenal. In der Folge spitzt Simon Rattle das Stück auf die Moderne hin zu, und Stuart Skelton, der mittlerweile auf der üblichen Bühnenhöhe agiert, bleibt ihm nichts schuldig. Und nachdem sich Isolde ihrerseits die Adern aufgeschlitzt hat, kommt es mit der – in der Zwischenzeit ein wenig ausgeruhten – Eva-Maria Westbroek zu einem Liebestod der allerschönsten Art.