In Lyon uraufgeführt: die Oper "Benjamin, dernière nuit".

Foto: Stofleth

Da treffen sich zwei mit bewegter Lebensgeschichte: Michel Tabachnik, Dirigent und Komponist, und Régis Debray, französischer Starintellektueller. Tabachnik gelangte zu zweifelhafter Berühmtheit, als die Sonnentempler-Sekte in den 1990ern mit Massen(selbst)morden für Aufsehen sorgte. Tabachniks Ehefrau starb, er selbst überlebte, wurde angeklagt, aber freigesprochen. Debray kämpfte in den 1960ern an der Seite von Che Guevara.

In Lyon haben die beiden jetzt die Oper Benjamin, dernière nuit herausgebracht. Im Zentrum steht Walter Benjamins Selbstmord im Jahr 1940. Im Stück gibt es ihn gleich doppelt, als Sänger (stark Jean-Noël Briend) sowie als Schauspieler (Sava Lolov). Benjamin blickt auf seine Vergangenheit, erinnert sich an Wahres, erlebt Surreales, die Stimmung ist vorwiegend düster. Debrays dicht gewobenes Libretto nimmt den bruchstückhaften Charakter von Benjamins Denken und Leben auf. Die Musik hängt eng am Text, sie ist meist überdeutlich, vorwärtsdrängend. Es gibt scharfe Akzente, enge Klanggeflechte.

Bernhard Kontarsky behält am Pult des Lyoner Opernorchesters in jedem Moment den Überblick. Rhythmisch klingt die Partitur oft nach Boulez oder Xenakis, aber es gibt auch mal ein Chanson mit Akkordeonbegleitung. André Gide, zu dem Benjamin eine eher schwierige Beziehung hatte, erscheint als Pianist, beim Diskutieren mit Bertolt Brecht schälen sich einige Takte Lili Marleen aus der sonst finster-revuehaften Klangmasse. Regisseur John Fulljames zeigt ein kunstvolles, aber bewusst artifiziell gestaltetes Erinnerungstheater.

Ein großes Archiv aus Büsten, Grammofonen und Jacken befindet sich auf der Bühne, dort sitzt oder steht Benjamin oder er liegt im Bett. Ein dauerndes Kommen und Gehen. Asja Lacis, Benjamins lettische Geliebte, erscheint als Fantasiewesen (Michaela Kusteková beeindruckt mit Sinnlichkeit); Brecht und Benjamin duellieren sich beim Schach, während um sie herum, in eingefrorenem Tempo, Orgien gefeiert werden.

Einmal verschlägt es Benjamin nach Jerusalem, wo er im echten Leben nie gewesen ist. Fulminant der vielfach differenzierte Chor, besonders schwebende, hohe Soprane haben es Tabachnik angetan: Mal handelt es sich um klar erkennbare Nebenfiguren, mal sind es unsichtbare Luftwesen, die für ostinate Figuren sorgen.

Neben Benjamin gab es in Lyon Halévys La Juive und Viktor Ullmanns Der Kaiser von Atlantis. Alle drei Stücke handeln von Fremdheitserfahrungen und seelischen Ausnahmezuständen, die Regisseure arbeiteten allesamt mit Elementen gebrochener Theatralität im Sinne eines epischen Musiktheaters. Richard Brunel inszenierte etwa das im Konzentrationslager Theresienstadt entstandene, erst 1975 uraufgeführte Stück Ullmanns als krasses Welttheater mit bösen Machthabern.

Anfangs erklingt das Siegfried-Idyll, bald wird das Konzert unterbrochen, der Wahnsinn bricht ein. Der Tod streikt, und dies führt zu Problemen, da zum Beispiel Soldaten nicht mehr erschossen werden können. Zuletzt kehrt der Tod doch noch zu seiner Kernaufgabe zurück. Piotr Micinski singt und spielt ihn wunderbar, toll auch das übrige Ensemble – alles junge Sänger aus dem Opernstudio! (Jörn Florian Fuchs aus Lyon, 29.3.2016)