Die Macht des weissen Kittels

Die Genfer Neuproduktion lebt vom Witz der musikalischen Interpretation, einer interessanten Neudeutung und einer Bühne, die den Aufführungsort geschickt einbezieht.

Thomas Schacher
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Komödiantisches Potenzial, auch in der Musik: «Le Médecin malgré lui» am Opernhaus Genf. (Bild: Carole Parodi / GTG)

Komödiantisches Potenzial, auch in der Musik: «Le Médecin malgré lui» am Opernhaus Genf. (Bild: Carole Parodi / GTG)

Selbst eingefleischten Opernbegeisterten ist nicht bekannt, dass Charles Gounod neben seinen bekannten Opern «Faust» oder «Roméo et Juliette» auch eine Komödie vertont hat: «Le médecin malgré lui» («Der Arzt wider Willen»). Wie bei seinen Musiktragödien griff er auch hier auf ein berühmtes Theaterstück der Weltliteratur zurück, nämlich auf Molières Komödie gleichen Namens. Im Unterschied zu den Tragödien veränderten Gounod und seine Librettisten aber hier die literarische Vorlage nur geringfügig: Die gesprochenen Dialoge sind eins zu eins von Molière übernommen, während die gesungenen Partien von Jules Barbier und Michel Carré neu getextet sind.

Angestaubtes, frisch gemacht

Die Handlung von «Le médecin malgré lui» mutet auf den ersten Blick ziemlich verstaubt an. Sganarelle, der Titelheld, ist ein dem Alkohol verfallener Korbmacher, der seine Frau schlägt, wenn er betrunken ist. Diese, Martine mit Namen, rächt sich, indem sie ihn in die Rolle eines Arztes zwingt. Sie hofft, dass er sich dabei gründlich lächerlich machen wird.

Die Patientin, die der falsche Arzt kurieren soll, ist Lucinde, die Tochter des reichen Bürgers Géronte. Sie leidet an Stummheit, deshalb kann ihr Vater sie nicht standesgemäss an den Mann bringen. Lucindes Stummheit ist indes nur gespielt, denn sie will gar nicht einen Reichen heiraten, sondern ihren Geliebten Léandre, der allerdings kein Geld hat. – Der Regisseur Laurent Pelly, der zusammen mit Jean-Jacques Delmotte auch die Kostüme entworfen hat, zeigt Sganarelle nicht als gescheiterte Existenz, sondern als cleveren und sportlichen Burschen, der überaus sympathisch wirkt. Nachdem er einmal in die unfreiwillig übernommene Rolle des Arztes hineingefunden hat, blüht er darin richtig auf und wickelt den leichtgläubigen Géronte derart um den Finger, dass es eine Freude ist. Er zitiert Hippokrates, wirft mit lateinischen Fachbegriffen um sich und erklärt die Anatomie des weiblichen Körpers, was sowohl Géronte wie die Amme Jacqueline tief beeindruckt. So wird in dieser Inszenierung Géronte mit seinem Standesdünkel und seiner Arztgläubigkeit zur eigentlich lächerlichen Figur. Und hier zielt Laurent Pellys Aussage durchaus in die Gegenwart: Kaum zieht sich einer einen weissen Kittel an und hängt sich ein Stethoskop um, so wird er automatisch zur Autorität.

Vokalisen

Das komödiantische Potenzial des «Médecin» liegt aber mindestens so sehr in der Musik. Dies wird schon bei der Ouvertüre des Orchestre de la Suisse Romande unter der Leitung von Sébastien Rouland deutlich: Nachdem sie als harmloses Tanzstück im Lully-Stil begonnen hat, melden sich plötzlich die Holzbläser mit schrägen Einwürfen zu Wort. In Sganarelles erster Arie reimt sich «glou-glou-glou» auf «doux», was auch im Orchester seinen Widerhall findet. Wenn Lucinde im dritten Akt zu singen versucht, bringt sie nur Vokalisen heraus, was von einzelnen Instrumenten sogleich nachgeahmt wird. Gounods Partitur spielt virtuos mit verschiedenen Stilelementen und spannt den Bogen von der französischen Barockmusik über die Opéra comique des 18. Jahrhunderts bis zum Witz Offenbachscher Prägung. Und sie verzichtet auf die Sentimentalität, die «Faust» und «Roméo et Juliette» bisweilen anhaftet. Dirigent und Orchester setzen diese genretypischen Elemente gekonnt und lustvoll um.

Das Hauptproblem für die Darsteller liegt darin, dass sie sowohl als Sänger wie auch als Schauspieler bestehen müssen. In Genf hat man diese Herausforderung glänzend bewältigt, sind doch die meisten der Protagonisten französischer Muttersprache. Der Sganarelle von Boris Grappe beherrscht sein Rollenspiel umwerfend und besticht auch mit seiner modulationsfähigen Stimme. Die Martine von Ahlima Mhamdi ist ganz Frau von heute. Franck Leguérinel gibt den Géronte als einen entfernten Verwandten von Molières «Bourgeois gentilhomme». Die Lucinde von Clémence Tilquin erscheint nicht als Püppchen, sondern als selbstbewusste Frau, die passiven Widerstand leistet. Der Léandre von Stanislas de Barbeyrac mimt mit heller Tenorstimme den empfindsamen Liebhaber. Eine urkomische Rolle spielt Doris Lamprecht als Amme Jacqueline, die im Hause von Géronte das Sagen hat und an den lüsternen Avancen des «Doktors» durchaus Gefallen findet.

Dem Umfeld angepasst

Da das Stammhaus der Genfer Oper zurzeit renoviert wird, spielt man in einem Provisorium im Uno-Quartier, das sich Opéra des Nations nennt. Es handelt sich um einen Holzbau, den man der Académie française abgekauft und für die Bedürfnisse der Oper erweitert hat. Für Gounods «Médecin», die zweite Neuproduktion im Provisorium, hat Chantal Thomas eine Bühne entworfen, die sich eng an die Holzarchitektur des Gebäudes anlehnt. Das Haus von Sganarelle und Martine besteht aus einem hölzernen Laufsteg, an einem «Baum» hängt das Mobiliar. Im Louis-XIV-Salon von Géronte bilden zwei Seitenwände die Begrenzung, deren Holzgerüste den Hochstapler gleichsam auf den Boden der Realität herunterholen.