Effekte der Affekte

Erstmals wird die Titelrolle in Georg Friedrich Händels «Ariodante» mit einem Countertenor besetzt: Yuriy Mynenko lässt sich in Lausanne auf das fordernde Unternehmen ein.

Michelle Ziegler
Drucken
Händel rückte das Innenleben der Figuren ins Zentrum. (Bild: Marc Vanappelghem / Opéra de Lausanne)

Händel rückte das Innenleben der Figuren ins Zentrum. (Bild: Marc Vanappelghem / Opéra de Lausanne)

Zu Beginn kündigt sich ein einträchtiges Eheleben an: Die schottische Prinzessin Ginevra und der Ritter Ariodante treten gemeinsam den Weg in eine wonnige, erfüllte Liebe an. Wäre da nicht Polinesso, der verschmähte Verehrer Ginevras, der in seinem Ehrgeiz alles unternimmt, um deren Auserwählten von der Untreue der Prinzessin zu überzeugen. Polinessos verletzter Stolz stachelt ihn in seinen düsteren Machenschaften an. Sie führen zu einem Selbstmordversuch, einer Verstossung und einem Duell. Die Liebesgeschichte aus Ludovico Ariostos Epos «Orlando furioso» ist einfach konstruiert, aber packend. Sie diente dem Florentiner Antonio Salvi für ein Libretto mit individuell gezeichneten Charakteren, das Georg Friedrich Händel für seine Opera seria «Ariodante» benutzte. Dabei rückte Händel das Innenleben der Figuren ins Zentrum, indem er die Rezitative kürzte und den Stoff musikalisch durchdrang. Ein Wechselbad der grossen Gefühle? Der italienische Regisseur Stefano Poda hat sich davon anregen lassen und folgt in seiner neuen Inszenierung für die Opéra de Lausanne den Kontrasten der menschlichen Gefühle.

Die Wände der dunklen Kammern, in denen Polinesso seine Intrige in Gang setzt, haben Ohren – und dies nicht nur im übertragenen Sinn. Auf den fleckigen Steinplatten sind Ohren und Augen abgebildet, an der Decke sind die Skulpturen knochiger Hände montiert. Sie verweisen auf Mithörer und äussere Einwirkungen und schieben sich immer wieder vor den hell beleuchteten Marmorsaal, in dem in argloser Vorfreude die Hochzeit von Ginevra und Ariodante beschlossen wird. Damit unterstreicht Poda, der sowohl für die Inszenierung als auch für die Ausstattung verantwortlich zeichnet, die Gegensätze der Affekte. Oft verschieben die Verantwortlichen die Wände und engen damit ihre Gegenspieler ein. Gleichwohl nutzt sich der Effekt im Verlauf des Abends etwas ab.

Für anregende Impulse sorgt indes das erstklassige Sängerensemble. Allen voran Yuriy Mynenko in der Rolle des Ariodante, die für den Kastraten Giovanni Carestini geschrieben wurde und heute gewöhnlich mit einer Mezzosopranistin besetzt wird. In Lausanne lässt sich erstmals ein Countertenor auf den virtuosen Part ein. In der Premiere gelang Mynenko die Arie «Con l'ali costanza» zwar noch nicht ganz geschmeidig, dafür steigerte er sich ab dem zweiten Akt. Sein «Scherza infida» wurde zu einem Höhepunkt des Abends. Das Gegenstück dazu bot Marina Rebeka in einem verzweifelten «Il mio crudel martoro». Überhaupt verleiht sie der Ginevra stimmlich eine innige Wärme, durch die ihre Opferrolle an Konturen gewinnt. Sie macht auch die Wendung der Inszenierung am Schluss verständlich: Anstatt sich mit Ariodante zu versöhnen, wendet sich Ginevra von ihm ab. Die verleumdete Frau kann den Treuebruch des Geliebten nicht so leicht verzeihen. Als Paar aufeinander abgestimmt sind auch die zarte Dalinda von Clara Meloni und der launige Polinesso von Christophe Dumaux – phänomenal etwa in der Arie «Spero per voi». Johannes Weisser passt sich schliesslich als mächtiger König in das Gefüge ein.

Das Orchestre de Chambre de Lausanne unternimmt seinerseits einen spannungsgeladenen Ausflug durch kontrastierende Gefühlswelten. Mit Diego Fasolis hat die Opéra de Lausanne wie bereits beim «Rinaldo» vor fünf Jahren einen Spezialisten des Fachs engagiert. Dieser geht schon die Ouvertüre voller Schwung und Energie an. Besonders packend gelingt ihm der Wechsel von Moll zu Dur, der den guten Ausgang vorwegnimmt. Fasolis bündelt den Streicherklang gemäss dem Usus der historischen Aufführungspraxis und unterstützt das Continuo am Cembalo. Die in den Rezitativen und Balletten leicht gekürzte Fassung ermöglicht einen kompakten Spannungsbogen, in dem keine Da-capo-Arie zu lang wird.