Wien – Es gibt Opernabende, an denen sich vor allem die Frage stellt, inwieweit die Routine das Räderwerk auf einem so großen Repertoiredampfer wie der Wiener Staatsoper zu lähmen vermag, mit wie viel Reibungsverlusten der Dampfer über die Runden kommt und wie lädiert die Mannschaft im Zielhafen einläuft. Und dann gibt es jene Stunden, in denen das ganze Schiff abzuheben scheint und sich wunderbare Höchstleistungen gegenseitig beflügeln, während jener Zauber entsteht, wegen dem Oper überhaupt existiert.

Es ist Geschmacksache, ob man existenzielle Erfahrungen eher in einem Rahmen verspürt, in denen museale Traditionen und Gewohnheiten nicht unhinterfragt weitergesponnen werden. Aber die beschriebene Magie stellt sich – wenn auch nicht allzu häufig – eher dort ein, wo die Illusion ganz ungebrochen gepflegt wird. So wie in jener opulenten, gemäldegleichen Regie von Giuseppe Verdis Maskenball von Gianfranco de Bosio aus jenem Jahr, in dem Kurt Waldheim Bundespräsident wurde (1986) und die schon damals sogar von Konservativen als "Kitsch" beschimpft wurde.

Kostümschinkenästhetik

Gerade diese Kostümschinkenästhetik bildete am Samstag das Vehikel für die musikalische Schwerelosigkeit, die den Abend von den ersten Takten an begleitete. Am Pult des Staatsopernorchesters sorgte ein Routinier für Inspiration: Jesús López Cobos agierte ebenso gezielt wie zurückhaltend, entfaltete poetische Lyrismen ebenso wie martialische Straffheit und fand eine ideale Mischung aus Schwung und Flexibilität, sodass sich die Sänger ausgiebig entfalten konnten. Und die waren bis hin zu den kleineren Rollen durch die Bank exzellent: etwa Hila Fahima in der Hosenrolle des Oscar mit jugendlicher Leuchtkraft.

Große Namen garantieren nicht unbedingt das große Erlebnis, doch in diesem Falle taten sie's: Als Gustaf (Riccardo) bot Piotr Beczala Pathos und Schmelz in hoher, aber genau kalkulierter Dosis, als sein Freund, Rivale und Mörder Ankarström (Renato) orgelte sich Dmitri Hvorostovsky nobel durch Lyrik und Grimm. Nadia Krasteva gab der Wahrsagerin Ulrica erdigen Zauber.

Krassimira Stoyanova freilich erinnerte daran, dass die Oper nicht ohne Grund den Untertitel Amelia trägt: Sie gab die Frau zwischen zwei Männern in allen Facetten zwischen zarten Gefühlen, Hingabe, Beklemmung, Angst und (von Verdi gezielt dick aufgetragenem) Gottvertrauen mit vielfarbigem, vielgestaltigem, jedoch durchgehend schimmerndem Glanz, der Vollkommenheit unglaublich nah.

Das Publikum war noch viel enthusiasmierter als diese Kritik. (Daniel Ender, 24.4.2016)