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Die tote Stadt

Oper in drei Bildern
Text von Paul Schott  nach Bruges la Morte von Georges Rodenbach
Musik von Erich Wolfgang Korngold

in deutscher Sprache mit Übertiteln

Aufführungsdauer: ca. 3 Stunden (eine Pause)

Premiere im Opernhaus des Staatstheaters Kassel am 23. April 2016

 



Staatstheater Kassel
(Homepage)

Durch Räume und Träume

Von Bernd Stopka / Fotos von N. Klinger

Im Mittelalter war das flandrische Brügge eine reiche Handelsstadt, die durch die Wasserläufe Zwin und Reie einerseits direkt mit der Nordsee verbunden war und andererseits mit Kanälen durchzogen und somit nicht nur von und durch, sondern auch im Wasser lebte. Die  Lebensader zur Nordsee wurde durch das Versanden des Zwin am Ende des 15. Jahrhunderts abgeschnitten und Brügge starb. Aus einer Stadt voll praller Lebendigkeit wurde eine bedeutungslose, geradezu tote Stadt. Der belgische Schriftsteller Georges Rodenbach nutzte diesen Hintergrund als Parallele in seinem symbolistischen Roman Bruges-la-Morte (Das tote Brügge), der als Vorlage für Erich Wolfgang Korngolds Oper Die tote Stadt diente. Der Komponist selbst skizzierte die Handlung, Hans Müller begann das Libretto und der Vater des Komponisten, Julius Korngold, beendete es unter dem Pseudonym Paul Schott. Welche Bildparallele könnte besser zur Geschichte Brügges passen, als das Sterben einer großen, glücklichen Liebe? Und welche besser zum Versanden einer Lebensader als das Gefangensein in der Erinnerung, der Vergangenheit?

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Marta Herman (Brigitta), Marian Pop (Frank)

Paul hat seine Frau Marie verloren, lebt in der Erinnerung an sie und hat sich ein Zimmer eingerichtet, in dem er alles, was ihn an Marie erinnert, wie Reliquien verehrt. Als er auf der Straße zufällig Marietta – eine Tänzerin – trifft, die Marie zum Verwechseln ähnlich sieht, lädt er sie zu sich nach Hause ein. Als sie dort auch noch das Lied singt, das Paul mit Marie in innigste Verbindung bringt, geht seine Phantasie mir ihm durch. Nachdem Marietta ihren kurzen Besuch beendet hat, verfällt er in Visionen. Marie und Marietta, Realität und Phantasie, Wunsch und Wahn verschwimmen darin und mit inneren und äußeren Kämpfen, Prozessionen und großem Theater befreit er sich von der toten Marie, indem er die lebendige Marietta erwürgt. Als Marietta kurz zurückkommt, um etwas Vergessenes abzuholen, erwacht er aus seiner Vision und erkennt seine Befreiung. Zusammen mit seinem Freund Frank geht er auf Reisen und verlässt die im doppelten Sinne tote Stadt, um ein neues Leben zu beginnen.

Das Team um Regisseur Markus Dietz hat die Geschichte der 1920 gleichzeitig in Hamburg und Köln uraufgeführten Oper für die Neuinszenierung am Staatstheater Kassel vom Ende des 19. Jahrhunderts in die Gegenwart verlegt, folgt damit aber nicht nur einfach dem allgemeinen Trend, sondern erreicht damit einen ähnlichen Gegenwartsbezug, wie er bei der Uraufführung bestand. Bühnenbildnerin Mayke Hegger hat als einheitlichen Rahmen einen hellen Raum geschaffen, dessen Hintergrund für Veränderungen offen ist. Zunächst sieht man eine bühnenbreite und –hohe raumteilerähnliche, weiße Regalwand, in der Paul Bilder und  Reliquien präsentiert (Schal, Laute, Duftflakons, Briefbündel, Maries Zopf usw.). Die Rückwand bildet eine Leinwand, auf der Fotos und Filme der Verstorbenen gezeigt werden können. Ein multimediales Erinnerungszentrum, das mit einer Fernbedienung gesteuert werden kann.

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Eva Maria Sommersberg (liegend: Marie), Celine Byrne (sitzend: Marietta) mit Ensemble und Opernchor

Perspektivisch geschickt öffnen sich bei hochgezogener Leinwand im Hintergrund verschiedene Wege, Raumtiefen und Spielebenen, die durch den Einsatz der Hubpodien auch unterschiedlich abgestuft werden können. Werden sie einzeln versenkt, können sie schmal und lang an Brügges Kanäle erinnern, deren Wasser vieles verschluckt und manches wieder hergibt. Als permanentes Bühnenelement steht in der Mitte der Bühne ein schlaflagerähnlicher, gepolsterter, weißer Quader. „Die Kirche des Gewesenen“, wie Frank Pauls Wohnung bezeichnet, ist ein ausgesprochen überzeugendes Bühnenbild. Durch Beleuchtung erhält der eigentlich weiße Raum eine traurig-graue Grundstimmung und leuchtet nur dann auf, wenn Pauls Erinnerungen besonders schön werden oder Marietta anwesend ist. Die Visionen/Traumbilder/Wahngedanken bewegen sich ebenfalls in diesem jeweils nur wie beschrieben veränderten Raum und lassen zunächst geschickt offen, ob es nun Realität oder Fiktion sein soll, was da gerade geschieht.  Im Nebeneffekt verhindert das auch, dass die Pferde mit der Regie gänzlich durchgehen, denn im Traum wäre ja nun mal alles möglich – und das kann zu den wildesten Auswüchsen führen.

Die grundlegende Regieidee ist die körperliche Anwesenheit Maries, durch die sich spannende, spiegelähnliche Bilder ergeben und Konflikte und Konkurrenzen visualisiert werden. Etwa wenn Paul Marietta durchs Haar fährt und Marie ihm gegenüberstehend die Bewegung spiegelt. Ganz großartig wirkt die Erscheinung Maries mit dem warnenden Gesang auf der Hinterbühne wie aus einer anderen Dimension. Je näher sich Marietta und Paul kommen, umso trauriger wird Marie, was dann schnell in zickige Giftigkeit und geradezu brutales Einfordern sexueller Ansprüche umschlägt. Viele Details, wie Pauls schwarze Krawatte, die zeigt, dass er die Trauerphase nie verlassen hat und die gleichen roten Kleider von Marie und Marietta (Kostüme: Henrike Bromber) lassen sich im Laufe des Abends entdecken.

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Ensemble und Opernchor

Es erscheint zwar bedeutungsvoll, wenn Paul erst mit Marie kopuliert, während Marietta im Hintergrund tanzt und sich das Bild durch den Befreiungstraum dann umkehrt und die Damen die Plätze gewechselt haben – die Frage ist nur, warum das Ganze auf die sexuelle Ebene gezogen werden muss. Marietta ist Tänzerin, aber keine Tabledancerin. Klar, das ist bühnenwirksam und Nacktheit wird immer wieder gern genommen, aber das zieht Pauls Liebe auf eine optisch beherrschende Ebene, die seine vielschichtige, tiefe emotionale Zuneigung und Abhängigkeit in den Hintergrund drängt. Das ist schade und auch nicht musikkonform. Besonders grenzwertig erscheint in den Traumbildern die gekreuzigte Marie im blutigen Hemd, die Gesellschaft, die mit roten Hände auf sie zeigt, als hätten sie ihre Hände vorher in ihrem Blut versenkt, das sie im Abgehen effektvoll auf die schönen weißen Seitenwände schmieren. Vom leuchtenden Kreuz herabgestiegen, versucht Marie mit Paul Sex zu machen, während der Kinderchor, auf deren Gesichter Kreuze oder Teilkreuze geschminkt sind, zuschaut bis Marietta die Szene auflöst. Blut, Kreuz, Auferstehung, ein Erlöser… das kommt bekannt vor. Wie gesagt, im Traum ist alles möglich, aber dieser Erlöserinnengedanke scheint doch ein bisschen weit hergeholt. Die christlichen Elemente der Erlösung sind in Libretto und Partitur durch die Prozession und die Nonnen enthalten und deuten damit an, was nicht unbedingt und schon gar nicht in dieser drastischen Form umgedeutet werden muss. Der Eintritt Brigittas (Pauls treuer Haushälterin) in ein Kloster gehört ebenfalls zu den vielschichtigen Andeutungen, die traumanalytisch ein Festessen sind.  Dass Brigitta oben die Kopfbedeckung einer Nonne trägt und unten schwarze Reizwäsche, gehört hier hingegen zum sexuell orientierten Regiegedanken. Nur durch das Träumen lässt sich erklären, dass nicht nur Paul, sondern auch Marietta Marie sehen und berühren kann und ihr den Zopf vom Kopf reißt, um sie anschließend damit auszupeitschen.

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Eva Maria Sommersberg (Marie) und Charles Workman (Paul), Chor

Die Idee, Marie leibhaftig auftreten zu lassen, hat ihre Reize, wird aber immer wieder auch zum Problem der Inszenierung. Wenn sie permanent auf der Bühne anwesend ist und nicht nur durch die Räume und Träume geistert (sehr lebendig, eifersüchtig und nicht nur sinnlich, sondern auch ganz heftig körperlich und sexuell mit Paul im Kontakt steht), fragt man sich, was er dann noch mit einer zweiten Marie will (wobei es sich damit erklären könnte, dass die bis zum Erwürgen klammernde „untote“ Marie eine echte Zicke ist. Das bringt das Stück aber nicht wirklich weiter). Verwirrend erscheint zunächst auch, dass Paul Marie nach dem Erwachen aus seinem Traum und bevor er sein Haus verlassen kann, gleich noch einmal töten muss. Aber letztendlich ist das die logische Konsequenz: Die tote, Paul beherrschende Marie kann nicht nur im Traum überwunden werden, sondern muss auch noch einmal tatsächlich aus dem Leben geschafft werden. Der Traum ist ja nur ein Traum und in der eigentlichen Geschichte (und im Leben im Allgemeinen und Besonderen) reicht es aus, Träume mit Träumen zu verarbeiten. Hier aber könnte man auf die wildesten Ideen kommen und daher seien unglücklich Liebende trotz des gezeigten Erfolgs vor jeglicher Nachahmung gewarnt.

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Hansung Yoo (Fritz, Pierrot)

Neben dem unverwüstlichen „Glück, das mir verblieb“ gibt es eine zweite Wunschkonzertnummer in dieser Oper, die auch tatsächlich als solche präsentiert wird. Der Chor lagert sich bequem auf der Bühne und lauscht dem Gesang Pierrots, der auf dem Proszeniumsgang zwischen Orchester und Publikum Paul zunächst wie einer Leiche die Augen zudrückt, sich dann in das „Mein Sehnen, mein Wähnen“ versenkt – und damit zum größten Glücksmoment des Abends wird. Mit höchster Stimmkultur, traumhaft schönem Timbre und dem genau richtigen Maß an Ausdruck, um emotional zu berühren, aber nicht ins Gefühlige abzudriften, singt Hansung Yoo dieses Lied zum Steinerweichen. Ähnlich berührend und überzeugend singt Marta Herman Pauls Haushälterin Brigitta mit stimmvollem, warmem und beseeltem Mezzo.  Charles Workman ist eine attraktive Bühnenerscheinung, als Paul aber kein, wie ansonsten in dieser Partie gewohnt, hell und klar strahlender, sondern ein warmstimmiger und eher matt leuchtender Tenor. Das wäre für die Figur gar nicht verkehrt, denn wieso sollte ein derart gebeutelter Mann wie Paul in den hellsten und strahlendsten Tönen singen? Problematischer sind die Höhen, mit denen die Stimme überfordert zu sein scheint. Kein Spitzenton ist so atonal komponiert wie einige, die man an diesem Abend zu hören bekommt. Celine Byrne muss sich als Marietta erst warm singen, was aber auch der Premierennervosität geschuldet sein kann. Atemberaubend sind ihre wundervoll angesetzen Piano-Töne („Abend sinkt im Hag“) und der aus der Hinterbühne gesungene Warngesang (der allerdings so klang, als sei er klangtechnisch unterstützt). Etwas mehr Volumen könnte der Stimme für diese Partie gut tun, die die Sopranistin ansonsten auch schauspielerisch eindrucksvoll bewältigt. Marian Pop hat man schon in überzeugenderen Rollen erlebt, als Freund Frank klingt sein Bariton neben schönen Tönen zuweilen etwas spröde und blass. Aber als Ensemblemitglied muss man auch Partien übernehmen, die nicht ideal in der Stimme liegen. Die Theatertruppe um Marietta ist stimmlich adäquat und gut aufeinander abgestimmt besetzt. Eva-Marie Sommersberg zeigt in der stummen Rolle der toten Marie eine exzellente schauspielerische Leistung.

Die schwelgerische Musik, die in der Spätromantik verankert ist, aber deutlich Korngolds eigenen Stil erkennen lässt und mit gelegentlich aufklingenden Elementen an die Karriere Korngolds als Filmmusikkomponisten erinnert, blüht unter Patrik Ringborgs Dirigat vielfarbig und leidenschaftlich auf. Das schwelgt und tobt, das brodelt und strahlt und zieht in einen Bann, dem man sich nicht entziehen kann und das auch gar nicht möchte. Ungewöhnlicher  aber überzeugender Weise geht der erste Akt nahtlos in den zweiten über, was den Sog der Musik nur noch verstärkt. Das Orchester folgt seinem GMD willig und engagiert, fast lupenrein, bis auf den zerfaserten Schlusston, der den Zuhörer in die Realität des Lebens mit seinen Schwächen neben dem Schönen zurückgeholt hat. Aber warum sollte es uns da besser gehen als Paul?

FAZIT

Eine ästhetisch ansprechende, gut nachvollziehbare, aber nicht in allen Regieideen überzeugende Inszenierung. Pierrot ist fantastisch und Brigitta sehr gut besetzt. Dirigat und Orchester können richtig begeistern.


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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Patrik Ringborg

Inszenierung
Markus Dietz

Bühne
Mayke Hegger

Kostüme
Henrike Bromber

Licht
Albert Geisel

Video
Michael Lindner

Choreografie
Lilian Stillwell

Chor
Marco Zeiser Celesti
Maria Radzikhovskij

Dramaturgie
Jürgen Otten

 

Staatsorchester Kassel

Opernchor und CANTAMUS-Chor
des Staatstheaters Kassel


Solisten

Paul
Charles Workmann

Marietta/ Die Erscheinung Mariens
Celine Byrne

Frank
Marian Pop

Brigitta
Marta Herman

Juliette
Lin Lin Fan

Lucienne
Maren Engehardt

Victorin
Paulo Paolillo

Fritz, Pierrot
Hansung Yoo

Graf Albert
Johannes An

Die tote Marie
Eva Maria Sommersberg


Weitere
Informationen

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Staatstheater Kassel
(Homepage)



Da capo al Fine

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