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Bühne und Konzert „La Passione“

Ein Bus wird kommen und bringt Dir Dein Leiden

Redakteur Feuilleton
Wandlungen mit Waschmaschine und blutpumpendem Lamm: Der Theaterentgrenzer Romeo Castellucci stellt Bachs „Matthäuspassion“ als Kreuzweg lebender Installationen in Hamburgs Deichtorhallen dar.

Es ist doch ziemlich weiß hier. Wahnsinnig weiß. Ein weißes Orchester sitzt auf weißen Stühlen umstanden von Sängern in Weiß vor einem weißgewandeten Dirigenten und einer weißen Wand jenseits einer weiten weißen Fläche. Romeo Castellucci hat sich für die Eröffnung des Hamburger Musikfestes an die Transformation der Bach’schen „Matthäuspassion“ in ein geistiges und geistliches Labyrinth von lebenden Bildern ein aseptisches Laboratorium in die Deichtorhallen bauen lassen.

Es wird natürlich nicht lange so rein bleiben. Es wird Blut aus einem ausgestopften Lamm in einen davon überlaufenden Kelch gepumpt. Ein Baum wird zersägt. Ein Polyestersarkophag in Form einer Betenden wird rosa Schaum schwitzen. Es wird chemische Experimente geben. Ein gewaltiger ausgemusterter Bus wird durch die Halle gefahren. Alles kein Problem. Reinigungspersonal steht bereit.

Keine Angst. Der Skandal findet nicht statt

Da es Menschen gegeben haben soll, die ein wenig Angst vor dem hatten, was der italienische Theaterradikale mit Bachs gewaltigem Exerzitium des Leidens Christi und des Mitleidens und Glaubens der Menschen anstellen würde, und die sich angesichts des erwähnten blutpumpenden Lamms nun bestätigt fühlen könnten, sei rasch erwähnt, dass Castellucci nichts ferner liegt in diesem Fall als die plumpe Provokation.

Er liefert ein vergleichsweise zahmes dreistündiges Paradoxon. Eine musikdramatische Ausstellung von Bildern, Elementen, Objekten eines säkularen Kreuzwegs, eine Art Antibebilderungbebilderung der „Matthäuspassion“, eine Spiegelung der Leidensgeschichte in vielen Geschichten aus der Gegenwart. Eine Sammlung von Installationen, die vor unseren Augen aufgebaut, ausgespielt und abgebaut wird.

Deren Zentrum, so will es jedenfalls Castellucci, wiederum der Zuschauer steht, der all das Gesehene, Gehörte, Gelesene (man muss, man soll ganz viel in einer mitgelieferten Broschüre nachlesen), in sich zu seiner eigenen Passion zusammensetzt. Die „Matthäuspassion“ sozusagen als persönliches Rezeptionsweihfestspiel.

Das geht zum Beispiel so. Das Laken, auf dem Alma Maris (3185 Gramm schwer, 49 Zentimeter groß – steht zur Beglaubigung der Authentizität in der Broschüre) am 9. April zur Welt kam, wird als anderes Schweißtuch der Veronika vorgeführt und anschließend in einer Waschmaschine gewaschen. Das letzte Abendmahl von Olaf Salmon (gestorben am Karfreitag in einem Hamburger Hospiz – steht wie alles in der Broschüre) kommt in einem Kühlschrank unter. Das Blut des Jesus-Sängers Philippe Sly wird von Laboranten analysiert (das im Blut enthaltene Eisen würde für drei bis vier Nägel reichen).

Manchmal ist das tatsächlich relativ albern (auf die griechisch-römischen Ringer zum Beispiel vom Wandsbeker Athletenclub hätte man vielleicht auch verzichten können). Manchmal schön und rätselhaft. Man lernt viel.

Leise schüttelt die Musik den Kopf

Es gibt natürlich auch Musik. Eine Musik, in der all das natürlich aufgehoben ist, die einen vom ersten Anwogen des Orchestersatzes hineinnimmt und nicht mehr loslässt, in der man (wenn man sich beispielsweise mit Kopfhörern auf dem Kopf in die neue Aufnahme von René Jacobs zurückzieht) aufgehoben ist. Die nichts braucht. Und die man jetzt manchmal leise ihren Kopf schütteln zu hören meint.

Sie spielt ziemlich weit hinten. Und klingt vielleicht auch deswegen, als sei sie von der Farblosigkeit, in der sie entsteht, angekränkelt. Kent Nagano am Pult erweist sich nämlich als einigermaßen erfolgreicher Verdichtungsverweigerer. Dramatisiert wird wenig. Klingt gut, eckt nicht an. Duckt sich manchmal zu arg weg.

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Es gibt allerdings einen ziemlich fabelhaften jungen Chor (die Audi Jugendchorakademie). Es gibt ein sehr ordentliches (aber leider mikrophonverstärktes) Ensemble und – in Form des Blutspenders Philippe Sly – einen eindrucksvollen, vielfarbigen Jesus.

Und es gibt Ian Bostridge. Der ist fürs Lieder- und Evangelistensingen gern mal, was Romeo Castellucci fürs Inszenieren ist. Ein Extremist. Was im Fall dieses Passionsabends allerdings desöfteren in augenscheinlich nicht geplanten Abstürzen gerade aus den größeren Höhen der Partie mündete. Am Ende hängt er seine Totenmaske an einen weißen Pfahl. Das ist dann doch ein bisschen übertrieben.

Um vielleicht die andere Frage furchtsamer Passionsfreunde zu beantworten: Braucht es das? Nein. Aber interessant ist es schon.

„La Passione“: Deichtorhallen Hamburg, 23., 24. April

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