Wo beginnt Untreue? Erst bei einem Kuss oder schon bei einem Gedanken? Diese Grundüberlegung stellt Eva-Maria Höckmayr ihrer Inszenierung von Wolfgang Amadeus Mozarts Oper Die Entführung aus dem Serail als Leitfrage voran. Belmonte verliert seine große Liebe Konstanze nicht durch eine Verschleppung, sondern durch ihr Geständnis, einen anderen begehrt zu haben. Da diesem Ansatz weder mit einer Orient-Kitsch-Optik noch mit den originalen Dialogen beigekommen werden kann, wählte die Regisseurin gleich einen ganz anderen Weg und schuf eine neue Dialogfassung basierend auf Motiven aus Arthur Schnitzlers Traumnovelle, Hugo von Hofmannsthals Der goldene Apfel und aus Erzählungen aus den Tausendundein Nächten.

Was in der Theorie so abenteuerlich klingt, funktioniert in der Praxis erstaunlich gut. Nach Konstanzes Geständnis vermischt sich in Belmontes Kopf Traum immer mehr mit Realität, der Nebenbuhler wird zu Bassa Selim, Osmin zu einem Dschinn, der eine Art innere unversöhnliche Stimme zu symbolisieren scheint und Blonde und Pedrillo werden zu einer Spiegelung bzw. zu einem Gegenentwurf zu Belmontes und Konstanzes Beziehung. Über die orientalischen Elemente rettete sich die Inszenierung clever mit einem Märchenbuch, aus dem Konstanze und Belmonte ihrer gemeinsamen Tochter vorlesen.

Großteils harmonierte die Dialogfassung ausgezeichnet mit der Musik und der gesungenen Handlung, lediglich wenn sehr theatralisch vom Sterben die Rede war, spießte es sich etwas. Auf die Bühne gebracht wurde das Beziehungspsychogramm in einer sehr glatten Ästhetik in schwarz, weiß und Glitzer; faszinierend waren die vielen doppelten Böden des Bühnenbildes, aus denen riesige Betten, Badezimmer und Sternenhimmel auftauchten, wodurch eine surreale Traumlandschaft im Kontrast zu Konstanzes und Belmontes realem Schlafzimmer geschaffen wurde.

Ständig auf der Bühne präsent, weil ja nicht im Serail gefangen, war Sophia Brommer als Konstanze. Schon in ihrer Auftrittsarie konnte sie das Publikum mit der Wucht ihrer Stimme, dem in der Mittellage dunkel verschatteten Timbre und glasklaren Koloraturen in ihren Bann ziehen. Lediglich ein paar Schärfen trübten zunächst den Gesamteindruck; bis zu den „Martern aller Arten“ hatten sich jedoch auch diese gelegt und die Stimme perlte fortan durch Koloraturen und strömte üppig durch herrliche Piani, völlig unabhängig davon, was an Körpereinsatz gefordert war. Darstellerisch schien sich Brommer völlig auf die Interpretation der Regisseurin eingelassen zu haben und brachte eine moderne sowie selbstbewusste Frau auf die Bühne, die gar nicht erst entführt oder gerettet werden muss.

Seine Beziehung retten will jedoch Belmonte, dem seine Geliebte entglitten ist. Mirko Roschkowski ließ sich in dieser Rolle interpretationsadäquat verwirrt-schüchtern in der Darstellung auf die Reise in surreale Traumwelten ein. Mit seiner ideal für Mozart timbrierten Stimme bestach er dabei mit wolkig weich klingenden Passagen, sicheren Höhen und kluger Phrasierung und konnte damit über die ein oder andere Stelle, an der er etwas angestrengt klang, hinwegtrösten. Darüber hinaus harmonierten Brommer und Roschkowski sowohl stimmlich als auch darstellerisch sehr gut, was dem sich abspielenden Beziehungswirrwarr Glaubwürdigkeit verlieh.

Als Gegenentwurf des ersten Paares fungierten Blonde und Pedrillo. Cathrin Langes helle, auch in der Höhe sanft und mühelos bleibende Stimme, die sie fein differenziert und klug einsetzte, verlieh der Figur Charakter und machte sie in Kombination mit ihrer Bühnenpräsenz im silbernen Glitzerkleid zum schillernden Zentrum der Aufmerksamkeit. An ihrer Seite hatte Taylan Reinhard sichtlich Spaß, den Diener Pedrillo zu spielen: ob im orientalischen Kostüm oder im Anzug, das komödiantische Timing passte. Dass sein Charaktertenor allerdings öfters angestrengt klang oder gar brüchig wurde, blieb ein Wermutstropfen; etwas mehr Wohlklang und stimmliche Präzision wären wünschenswert gewesen. Peter Kellners Osmin als eine Art böser Dschinn konnte viel dämonische Abgründigkeit in seine Stimme legen und sie mit farbenreichen Schattierungen ausstatten, wobei es ihm allerdings stellenweise an Volumen und an dem letzten Rest Schwärze fehlte.

Aus dem Graben sorgte das Grazer Philharmonischen Orchester unter seinem Chefdirigenten Dirk Kaftan gleichermaßen für hypnotische Schwüle, orientalisch anmutende Klänge und elektrisierende Energie. Mozarts Musik blieb nicht bloß auf die Leichtigkeit ihrer Oberfläche beschränkt, sondern erklang in ihrer Gesamtheit mit all ihren fein abgestuften Gefühlsebenen. Auffallend präzise funktionierte außerdem die Abstimmung zwischen Orchester und Bühne. Aufgrund der veränderten Dialogfassung beziehungsweise der Interpretation der Handlung erschienen auch wohlbekannte musikalische Passagen in völlig neuem Licht – etwa, wenn Konstanze von „Martern aller Arten“ singt und dabei eher die Folter, die sie sich durch die Unterdrückung ihrer eigenen Sehnsüchte antut, zu verklanglichen schien, als reale Bedrohungen.

Die eigentliche Sprechrolle des Bassa Selim wurde mit Martin Dvořák besetzt, der stumm blieb, sich dafür aber durch Tanz ausdrücken durfte. Er erschien weniger als eine reale Figur, sondern mehr als Projektionsfläche für Belmonte und dessen Angst vor dem Nebenbuhler. Die Begnadigung durch Bassa Selim am Ende der Oper wurde so zu einem Akt der Selbstvergebung von Konstanze und Belmonte, die wieder zu einander finden. Ähnlich einer Traumdeutung blieben manche Aspekte des Abends am Ende zwar unklar, Mozarts Musik lädt jedoch zum Genießen ein und die Inszenierung von Eva-Maria Höckmayr regt zum Nachdenken an und zeigt bekannte Favoriten aus neuem Blickwinkel.

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