Braucht man das?

Romeo Castellucci ist der Philosoph unter den Regisseuren – seine Inszenierungen stellen uns in ihren besten Momenten vor existenzielle Fragen. Bei Bachs Matthäus-Passion gelingt dies nur teilweise.

Christian Wildhagen, Hamburg
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Die Aura des Authentischen: Schädel eines Selbstmörders in Romeo Castelluccis Bach-Inszenierung «La Passione». (Bild: Bernd Uhlig)

Die Aura des Authentischen: Schädel eines Selbstmörders in Romeo Castelluccis Bach-Inszenierung «La Passione». (Bild: Bernd Uhlig)

Claus Zapp hat Pech gehabt. Grosses Pech. 1993 stürzte er aus 25 Metern Höhe in die offene Ladeluke eines Containerschiffs. Bei dem Sturz verlor er beide Unterschenkel. Jetzt steht er auf der riesigen, vollständig weiss ausgekleideten Bühne in den Hamburger Deichtorhallen, einem Industriedenkmal, vergleichbar mit dem Zürcher Schiffbau oder der Bochumer Jahrhunderthalle. Ganz nahe am Unglücksort, dem Hamburger Hafen, steht er hier, und Zapp wankt ein wenig. Denn soeben hat er seine Prothesen abgelegt, doch zum Glück stützt ihn ein langer, vergoldeter Hirtenstab. Nur auf seinen Beinstümpfen geht er nun langsam und schwankend, aber voller Würde ab. Währenddessen erklingt der Schlusschor aus Bachs Matthäus-Passion: «Wir setzen uns mit Tränen nieder.» Romeo Castellucci, der Regisseur dieser wundersamen Aufführung von Bachs Wunderwerk, hat der Szene einen Namen gegeben: «Apostel» nennt er sie.

Kraftomnibus mit Einfachtüren

Das ebenso eindringliche wie leise befremdende Bild ist exemplarisch für die «La Passione» betitelte Produktion. Castellucci will nämlich gerade nicht eins zu eins bebildern, wovon die Passionsgeschichte und die Dichtung Christian Friedrich Henricis alias Picander künden. Er schafft vielmehr bewegte Szenen und szenische Installationen, über und über aufgeladen mit Assoziationen, die jeden Einzelnen an- und verleiten sollen, sich selbst Gedanken zu machen über das Gesehene und Gehörte.

Mit diesem Ansatz, der sich einer gleichsam kinohaften, lediglich konsumierenden Rezeption radikal entgegenstellt, sind Castellucci in den vergangenen Jahren denkwürdige Regiearbeiten geglückt, allen voran jene Inszenierung von Glucks «Orfeo ed Euridice» bei den Wiener Festwochen 2014, in der er die Zuschauer sehr real mitnahm auf die Reise des mythischen Sängers in die Welt der Schatten, nämlich in die eigentümlich entrückte Daseinssphäre einer Wachkoma-Patientin.

Dieselbe Intensität und gleichnishafte Stimmigkeit erreicht die Hamburger Produktion nicht. Allerdings wählt Castellucci hier auch eine grundlegend andere Erzählhaltung: An die Stelle der geschlossenen Narration tritt eine parataktische Reihung von einzelnen Bildern, die man als moderne Allegorien deuten kann (und soll): Gleichnisse für Grundfragen des Glaubens. Wie in einem fortwährenden Bewusstseinsstrom ziehen diese Sinn-Bilder in einem leicht hypnotischen, für Castelluccis Regiesprache typischen Moderato-Tempo vorüber, und zwar zumeist buchstäblich von der rechten Bühnenseite zur linken. Freilich schwankt deren Qualität und vereinzelt auch ihre Schlüssigkeit erheblich, vor allem im ersten Teil der musikalisch ungekürzten Wiedergabe, die ohne Pausenunterbrechung knapp drei Stunden durchläuft.

Das eingangs beschriebene Schlussbild zählt in dieser Folge zu den beredteren Tableaus. Viel und vieles hat man bis dahin auf der fast vollständig weissen Bühne gesehen, die bewusst eine etwas aseptische Labor-Atmosphäre verbreitet (sogar die Notenständer des im Bühnenhintergrund placierten Philharmonischen Staatsorchesters hat man weiss umklebt). Manch Merkwürdiges und Befremdliches geschieht in diesem Zeichen- und Denk-Labor, etwa wenn zur Feier des Abendmahls ein kompletter «Kraftomnibus mit Einfachtüren» vorübergleitet, wie von Geisterhand bewegt und obendrein in Seitenlage. Oder wenn der Regisseur zwei Ringer, notabene «im griechisch-römischen Stil», auf die Bühne schickt, die irgendetwas mit der fundamentalen Einsamkeit Jesu in Gethsemane zu tun haben sollen.

Obwohl eine eigens verteilte Handreichung mit der Genauigkeit eines kafkaschen Buchhalters sowohl das Gewicht des Busses (12 200 Kilo) wie das der beiden Ringer (Klasse bis 74 Kilo) verzeichnet und noch etliche weitere, scheinbar welterhellende Informationen beisteuert, wirken diese Assoziationen nicht nur hermetisch, sondern auch ein bisschen flach. Anderes verbreitet mehr Magie, bisweilen auch schlicht den Nimbus des Realen – zum Beispiel jener originale Schädel (1065 Gramm) eines Selbstmörders, der zuvor selbst zum Mörder geworden war; hier sorgt er bei der Schilderung der Judas-Tragödie («Da ging hin der Zwölfen einer . . .») für ein wenig authentischen Grusel.

Wie so oft balanciert Castellucci mit solchen Einfällen auf Messers Schneide – zwischen Stimmigkeit und Banalität. Mit einigen strapaziert er womöglich sogar moralische, ästhetische oder religiöse Grenzen. So auch, wenn er in der Ölberg-Szene Rogier van der Weydens Osterlamm (ausgestopft, mit Elektropumpe) Unmengen von künstlichem Rot dergestalt am Kelch vorbeibluten lässt, dass umgehend eine – natürlich ebenfalls real existierende – Reinigungsfirma (250 Spezialkräfte) den Bühnenboden wieder weiss schrubben muss.

Das ist in der Tat banal. Doch die Aura des Authentischen, um die es Castellucci stets geht und die hier die Vorgänge der Leidensgeschichte bedrängend nah an den Hörer rücken soll, entwickelt sich in den stärksten Momenten dieses eigenwilligen Bebilderungsreigens durchaus. Einiges erinnert dabei an Kunstaktionen von Joseph Beuys. Wenn beispielsweise aus dem Blut von Philippe Sly, dem hervorragenden Sänger der Jesus-Partie, mittels Elektrophorese Eisen extrahiert wird; unterzöge man alles Blut eines Menschen dem gleichen Verfahren, so informiert uns das Manual, reichte dies just für drei Nägel.

Noch mehr zu denken gibt der schlichte Einfall, mit dem der Regisseur die Schmerzen der Kreuzigung zumindest erahnbar macht: Vierzehn Menschen, von Jung bis Alt, hängen sich der Reihe nach an eine weisse Reckstange, doch obschon sich alle bis zum Letzten quälen, kommt niemand auch nur in die Nähe jenes stundenlangen Martyriums, das ein real Gekreuzigter zu erleiden hatte.

Sakrileg und Toleranz

Braucht man dies alles? Man darf Castelluccis vieldeutige Schlussszene auch dahingehend verstehen, dass ihm selbst der Prothesen-Charakter seiner Bühnenallegorien durchaus bewusst ist. Im Übrigen hat man die Diskussion um Sinn und Unsinn einer szenischen Vergegenwärtigung der Matthäus-Passion in Hamburg schon einmal geführt, vor einem Vierteljahrhundert. Als John Neumeier 1981 Bachs Werk choreografierte und anfangs selbst die «Rolle» des Jesus tanzte, erschien dies vielen in der protestantisch geprägten Hansestadt als Sakrileg. Inzwischen gilt Neumeiers Version als Meilenstein der jüngeren Ballettgeschichte, und auch Castellucci erntet am Ende in den Deichtorhallen alles andere als lauten Widerspruch. In einer Zeit, da Tabus und Verbote in der Kunst wieder fatale Konjunktur haben, ist dies eine schätzenswerte Toleranz, nicht zuletzt im Religiösen.

Kent Nagano, Hamburgs neuer Generalmusikdirektor, scheint sich trotzdem ein bisschen absichern zu wollen: Bevor er sein ansprechendes Solistenensemble um den (gelegentlich outrierenden) Evangelisten Ian Bostridge und die beeindruckend reif gestaltende Audi-Jugendchorakademie mit wachsender Dringlichkeit durch Bachs musikalischen Kosmos führt, wäscht sich Nagano – auch er ganz in Weiss – symbolisch die Hände in einer Schale mit klarem Wasser.