Wehmutsvolle "West Side Story"

West Side Story
West Side StorySilvia Lelli
  • Drucken

Bernsteins geniales Musical begeistert in der Salzburger Felsenreitschule – als nostalgische Erinnerung der gealterten Maria von Cecilia Bartoli.

Ein Treppenwitz der Geschichte: Die Upper West Side von einst mit ihren vielen Einwanderern aus Osteuropa und der Karibik ist untergegangen – und just dort, wo Leonard Bernstein und Arthur Laurents ihre moderne Version von „Romeo und Julia“ angesiedelt hatten, zwischen Abbruchhäusern und schmutzigen Hinterhöfen, öffnete 1966 dann auch die neue Metropolitan Opera ihre Pforten.

Sogar in Salzburg scheint die sogenannte Hochkultur nun mutig fremdes Terrain zu annektieren. „West Side Story“ bei den Festspielen zu Pfingsten und im Sommer – das kann über den Kassenerfolg mit insgesamt acht längst ausverkauften Vorstellungen hinaus ja nicht bloß bedeuten, man wolle die Genrefachleute vom Broadway mit deren eigenen Waffen schlagen. Nein, es sollte schon auch ein anderer, auf der Bühne noch selten verwirklichter Zugang sein, den Cecilia Bartoli als künstlerische Leiterin der Pfingstfestspiele dabei im Sinn hatte. Ein „opernhafter“ nämlich – also das, was Bernstein ursprünglich eigentlich vermeiden wollte, aber gottlob nicht restlos konnte und in seiner legendären Aufnahme 1985 mit Opernstars auch selbst bekräftigte.

Cecilia Bartoli nun mit knapp 50 als Maria? Die Skepsis mancher Beobachter war an sich so ungerecht wie unbegründet: Noch bei ihrer quirlig-jugendlichen Cenerentola 2014 verschwendete wohl niemand einen Gedanken an ihr Geburtsdatum – und im Musiktheater definieren sich Figuren eben nicht rein rechnerisch, sondern im wundersamen Zusammenwirken von Gesang und Darstellung. Dennoch wendet der broadwayerfahrene Regisseur Philip Wm. McKinley gleichsam einen Trick an, indem er Bartoli in einer Rahmenhandlung als um Jahrzehnte gereifte Maria vorstellt: In leidender Erinnerung durchlebt sie das Stück als Rückblende, wandelt als stumme Zeugin durch die Szenen, trifft auf ihr eigenes, junges Ich in Gestalt der eindringlichen Michelle Veintimilla – und kann Tonys Tod zuletzt kein zweites Mal mehr ertragen . . .


Fremdkörper Bartoli. Eine „West Side Story“ zweiter Ordnung also – bei der McKinley den Nostalgietrumpf freilich allzu triumphierend ausspielt. Für Bartoli birgt das Konzept jedoch den Vorteil, dass sie sich nicht durch die Dialoge quälen muss, deren Ausführlichkeit zumindest im ersten Teil zu einem Spannungsabfall führt. Nur die zentralen Sätze spricht sie mit – und singt natürlich. In den schönsten, den lyrischen Momenten formt sie dabei bewegende Phrasen mit einem cremigen Klang, der gar nicht weit entfernt von dem ist, was Kiri Te Kanawa einst unter Bernsteins Stabführung erzielt hat.

Wenn Bartoli allerdings mehr geben muss, dann schmeichelt ihr die Verstärkeranlage nicht: Ja, der Sound kommt auch aus den Boxen. Außerdem bleibt sie sogar in Duetten szenisch isoliert, wirkt fast wie ein Fremdkörper, da ja alle mit der jungen Maria interagieren. Darüber hinaus ist McKinleys Idee vor allem gegenüber dem Tony von Norman Reinhardt nicht ganz fair. In Wien war der jugendlich wirkende Amerikaner zuletzt in der „Straniera“ im Theater an der Wien zu hören. Hier erinnert er nach kleinen Unebenheiten mit geradlinigem Tenor und sauberer Kopfstimme an den im besten Sinn naiven Charme eines Jerry Hadley – und legt sich auch als Darsteller voll ins Zeug. Nur: Inmitten der von halben Kindern dominierten Besetzung nimmt er sich unverdientermaßen schon reichlich erwachsen aus, während er zu Bartoli doch gut gepasst hätte . . .

„Without a gang you're an orphan“, heißt es einmal im Text. Nun, Gustavo Dudamel brachte seine Gang mit – und in dieser spielte wahrlich niemand wie ein schüchternes Waisenkind. Das Simón Bolívar Symphony Orchestra entfachte im halb verdeckten Orchestergraben vor allem eines: rhythmische Verve. Auch irisierende Streicherklänge umschwebten wie eine Gloriole etwa das „Somewhere“, das beinah selbstverständlich auch Cecilia Bartoli anstimmte. An viele andere Finessen des Stücks, gewiss eines der großen, genialen Musiktheaterwerke des 20. Jahrhunderts, konnte man sich mehr erinnern, als sie direkt vernehmen. Daneben beherrschten im Genre erprobte Profis die Produktion: George Tsypin schuf ein pittoresk-bewegliches Bühnenbild, auf dessen drei Ebenen sich ein formidables Ensemble mit der großartigen Karen Olivo (Anita) an der Spitze tummelte und Liam Steels Choreografien mit Leben erfüllte – frenetischer Jubel.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.05.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.