So klingt Mitmenschlichkeit in tiefster Finsternis

Seit 2011 haben Georg Friedrich Haas und Händl Klaus eine Trilogie geschaffen, die an letzte Tabus rührt. Mit der Uraufführung von «Koma» liegt nun der letzte Teil vor – ein grosser Wurf.

Marco Frei
Drucken
Mit dem neuen Werk "Koma" endet die Operntrilogie von Georg Friedrich Haas und Händl Klaus, die den Tod ins Zentrum rückt. (Bild: Franco Bottini / NZZ)

Mit dem neuen Werk "Koma" endet die Operntrilogie von Georg Friedrich Haas und Händl Klaus, die den Tod ins Zentrum rückt. (Bild: Franco Bottini / NZZ)

Der Ausruf trifft bis ins Mark. Es ist die nackte Wahrheit: «Lass uns leben!», fordern und flehen sie. Eine Patientin ist gemeint, die im Koma liegt – es sind ihre Angehörigen, die rufen, und allein ihr Tonfall drückt ein Gefühlsspektrum von aussergewöhnlicher Breite und einen Beziehungsreichtum sondergleichen aus: Verletzte Gefühle und enttäuschte Liebe schwingen da mit, Hoffen und Bangen, lähmendes Warten und angstvolle Erwartung, aber auch Wut und Zorn – tiefste Verzweiflung und Hilflosigkeit. Die Oper «Koma» von Georg Friedrich Haas und seinem Librettisten, dem vielgespielten Theaterautor Händl Klaus, die jetzt im Rahmen der Schwetzinger Festspiele uraufgeführt wurde, verdrängt nichts. Sie spricht alles aus.

Mit diesem neuen Werk endet zugleich die Schwetzinger Operntrilogie von Haas und Händl Klaus, die den Tod ins Zentrum rückt und im Jahr 2011 mit dem Werk «Bluthaus» begonnen hat. Ging es in diesem Werk um Missbrauch und Gewaltverbrechen, so spielte «Thomas» von 2013 in einem Hospiz. Die neue Oper «Koma», mit der sich zugleich Georges Delnon, der frühere Basler und heutige Hamburger Intendant, als Leiter der Opernsparte in Schwetzingen verabschiedete, dreht sich nicht so sehr um die Komapatientin Michaela (Ruth Weber), sondern zuvörderst um die Reaktionen ihrer Familie.

Die letzten grossen Tabus

Aus den Erzählungen der Angehörigen lässt sich schliessen, dass sich Michaela umbringen wollte. Im Winter ist sie in einem eiskalten See geschwommen, um sich zu ertränken. Seit diesem Vorfall, offiziell als «Unfall» deklariert, liegt Michaela im Wachkoma. In der Klinik ist sie nun fast ununterbrochen von ihrer engsten Familie umringt. Sie alle kämpfen mit dem Unaussprechlichen – der Ehemann Michael (Ekkehard Abele), die Schwester Jasmin (Lini Gong) und deren Mann Alexander (Daniel Gloger). Auch Michaelas kleine Tochter irrt umher, gänzlich stumm geworden im Schmerz.

Alles dreht sich hier um Krankheit, Sterben und Tod, also vielleicht die letzten grossen Tabus der westlichen Gesellschaften. Indessen gehen Haas und Händl Klaus noch weiter, indem sie zugleich eine Gesellschaft vorführen, in der sich jedwede Menschlichkeit zunehmend rarmacht. Dies spiegelt sich wider in der kühlen Distanz, mit der die Ärzte, durchwegs Sprechrollen, den Angehörigen den Zustand von Michaela erklären. «Sehr ruhig, in professioneller Sachlichkeit», lautet dazu die Interpretationsanweisung in der Partitur.

In der Inszenierung von Karsten Wiegand, dem Intendanten des koproduzierenden Staatstheaters Darmstadt, setzt sich die kühle Distanz der Ärzte im aseptisch-kargen Bühnenbild von Bärbl Hohmann fort. Auf einem Krankenbett liegt Michaela manchmal im Hintergrund der Bühne, dann wieder als grosser Körper auf einen Gazevorhang projiziert (Video: Roman Kuskowski). Dazwischen tummeln sich die Ärzte und Michaelas Familie. Mit dieser einfachen, aber atmosphärisch dichten und sinnstiftenden Szenerie führt Wiegands Regie tief hinein in das Innenleben eines beklemmenden Dramas – und dies nicht abstrakt, sondern wohltuend narrativ.

Damit hilft Wiegand zugleich dem Werk, das selbst keine Handlung erzählt, sondern die psychologischen Auswirkungen eines Zustands. Diese Zustandsbeschreibung erinnert an das Theaterstück «4.48 Psychose» der genialen Dramatikerin Sarah Kane, die sich 1999 in einer psychiatrischen Klinik umbrachte. Mit der radikalen Direktheit und Reduktion seiner Sprache spürt Händl Klaus, ähnlich Kane, einem hochpoetischen Klang der Worte nach. Haas füllt diese Sprache mit einer Musik, die in Schwetzingen einen erbarmungslosen Sog entwickelt – auch dank den überragenden Leistungen aller Ausübenden.

Die mikrotonalen Reibungen und Obertonreihen, mit denen Haas hier aufs Neue arbeitet, entwerfen ein Schattenreich, in dem sich Identitäten zusehends auflösen, passend zum Thema der Oper. Wenn Haas in diesem Kontext eine reine hohle Quinte erklingen lässt, seit je das Tonsymbol von Tod und Jenseits, ist die Wirkung umso beklemmend schöner – gerade auch in Verbindung mit der Celesta, dem Akkordeon und dem mikrotonal umgestimmten Klavier, die das obendrein reich mit Schlagwerk besetzte Kammerorchester gewinnbringend ergänzen.

Erschütternd real

Überdies arbeitet Haas mit drei Ebenen des Lichts, was die Dramaturgie der jeweiligen Zustandsbeschreibung direkt erfahrbar macht. In Tageshelle reflektiert die Familie das Leben von und mit Michaela, im Halbdunkel schlummern Geheimnisse wie etwa die Affäre zwischen Michaela und Alexander. Sonst aber ist der ganze Theaterraum überwiegend in Dunkelheit gehüllt, womit einerseits das Wachkoma visualisiert wird und andererseits der unaussprechliche Schmerz der Familie.

Schon in dem Ensemblestück «in vain» aus dem Jahr 2000 und auch in seinem 3. Streichquartett hat Haas mit totaler Finsternis gearbeitet. Freilich erfordert die Finsternis zugleich eine besondere Musizierweise und Dirigierhaltung: Reine Befehlsgeber und Befehlsempfänger scheitern mit dieser Partitur, weil das notwendige Auswendigspielen in Dunkelheit nicht zuletzt viel gegenseitiges Vertrauen voraussetzt. In Schwetzingen wurde dies von Jonathan Stockhammer, auch bekannt als Leiter des Collegium Novum in Zürich, sowie den Musikern des SWR-Sinfonieorchesters Stuttgart mustergültig umgesetzt – höchst agil und wachsam.

Mit dem Aufeinander-Achten und -Hören in partnerschaftlichem Sinn, das die Partitur einfordert, stellt Haas überdies kompositorisch eine Mitmenschlichkeit in den Raum, die in der Gesellschaft oft fehlt. Es ist eine klingende Lösung, die Haas entwirft – durchaus ein Licht der Hoffnung, obwohl diese Oper in stiller Finsternis endet. Die Familie ruft und flüstert den Namen der Komapatientin, bis die Worte im leeren Raum verhallen – ohne Antwort oder Reaktion. Ein erschütternd reales Musiktheater wurde da in Schwetzingen geboren. Dieser Stoff tut weh – und not.

CD-Hinweis: Georg Friedrich Haas, «Wer, wenn ich schriee, hörte mich . . .» für Percussion und Ensemble, « . . . aus freier Lust . . . verbunden . . .» für Bassflöte, Bassklarinette und Percussion, «. . . und . . .» für Elektronik und Kammerensemble. Collegium Novum Zürich, Experimentalstudio des SWR, Enno Poppe (Leitung). Neos CD 10919 (1 CD).