Wohl kaum eine Oper vermag es, einen derart beklemmenden Eindruck zu hinterlassen wie Lucia di Lammermoor. Die heikle Kombination aus Machtkämpfen und Liebe ist altbekannt und liefert uns seit jeher explosiven Stoff für Dramen, die meist tragisch enden müssen, und auch die bedauernswerte Figur der Lucia Ashton bleibt nicht verschont. Das Ensemble der Bayerischen Staatsoper brachte am Samstagabend das Meisterwerk von Gaetano Donizetti in all seinen Facetten und Reizen auf die Bühne des Nationaltheaters. Die musikalische Leitung lag dabei in den Händen von Oksana Lyniv.

Die Geschichte einer Frau, die sich immerzu aus den Fängen des Schicksals zu befreien versucht und letztendlich doch scheitern muss ist keine leichte Kost. Als Zuschauer gerät man unfreiwillig in die Situation, dass man den von schweren Schicksalsschlägen verursachten, langsamen psychischen und physischen Verfall der eigentlich starken und sich nach endgültigem Frieden sehnenden Lucia mitansehen muss. Bei einer so gehaltvollen Handlung besteht immer ein gewisses Risiko, dass eine ebenso üppige Inszenierung von der Handlung ablenken kann und dem Hörer überwältigt. Regisseurin Barbara Wysocka verzichtete jedoch auf ein aufwendiges Bühnenbild, ausgefallene Kostüme und ungewöhnliche regietechnische Einfälle und rückte in ihrem Werk den Inhalt der Tragödie in den Vordergrund. Die Handlung spielt weitgehend in einem großen Hotel-Ballsaal der 50er bzw. 60er Jahre; es gibt keine großen Bühnenbildwechsel und die glamourösen, wenn auch schlichten Kostüme aus der Zeit bringen ein wenig Farbe ins düstere Geschehen.

Teilweise waren die Rollen mit Mitgliedern des Opernensembles der Bayerischen Staatsoper besetzt. So waren Goran Jurić und Dean Power in den Rollen Raimondo und Normanno, den unredlichen Gehilfen Enricos, zu erleben; Mezzosopranistin Rachael Wilson spielte Alisa, die liebevolle und hilfsbereite Vertraute Lucias, und der aus Frankreich stammende Philippe Talbot verkörperte den Lord Arturo Buckley. Ein Highlight des Abends war zweifelsohne der Tenor Pavol Breslik als Edgardo: Mit seiner warmen, obertonreichen Stimme verlieh er dem als eher salopp inszenierten Geliebten Lucias einen sehr herzlichen und aufrichtigen Zug. In der Rolle seines Widersachers Lord Enrico Ashton spielte Luca Salsi den gewissenlosen Bruder Lucias mit einer beeindruckenden Präsenz und einer Stimmgewalt, die auf ganzer Linie überzeugte. Auch schauspielerisch ließ er keine Wünsche offen.

Die junge Sopranistin Nina Minasyan hingegen, welche die Rolle der Lucia sang, schien anfangs Schwierigkeiten zu haben, sich ganz auf ihre Rolle einzulassen, jedoch konnte sie in den Szenen mit Salsi die von ihm gesetzten Impulse leicht aufnehmen und gut verarbeiten. Nichtsdestotrotz vermochte sie es, die Rolle der Lucia schon von Anfang an mit ihrer hellen und ehrlichen Stimme, die etwas an eine frühe Cheryl Studer erinnerte, zu bereichern. Im Laufe des Abends schien sich Minasyan zusehends in ihre Rolle einzufinden. Wer anfangs noch Zweifel hegte, ob sie die Wahnsinnsszene meistern würde, konnte beruhigt sein: Sie spielte die ihre Soloszene mit einer derartigen Überzeugungskraft, als hätte sie nie eine andere Partie gesungen. Es herrschte eine intensive Spannung und man wagte kaum zu atmen, als sie als einzige in ihrem silbern glitzernden Kleid und blutrotem Lippenstift ihren geliebten Edgardo vor sich sah, ihm zuwinkte, lockte, und dabei wild und unvorhersehbar mit ihrer Pistole gestikulierte. Selten war Wahnsinn so schön anzusehen.

Die Möglichkeiten, eine Lucia zu inszenieren, sind schier endlos. Je tiefer man die Figur der Lucia betrachtet, desto mehr Fragen gilt es zu beantworten. Sie schafft es am Ende tatsächlich nicht, sich aus ihren tragischen Umständen zu befreien, aber ist sie deshalb direkt als Opfer zu betrachten? Ist sie mit verantwortlich für ihr Schicksal? Hätte sie die negative Wendung ihrer Geschichte möglicherweise verhindern können?

Barbara Wysocka inszeniert Lucia hier nicht als bloßes Mittel zur Machterhaltung ihres Bruders, sondern als willensstarke und impulsive Frau. Obwohl sie dauernd von unvereinbaren Widersprüchen förmlich zerrissen wird, sieht sie sich nur nach immenser Überzeugungsarbeit und zahlreichen Intrigen gezwungen, sich zu fügen. Diese Komplexität der Rolle ist meines Erachtens unabdingbar für einen nachhaltigen Eindruck beim Hörer. Sicherlich könnte man hinsichtlich des Bühnenbilds argumentieren, dass das Szenarium wenig aufregend und abwechslungsreich war, aber diese Oper hat das nicht nötig. Das schlichte Bühnenbild überforderte den Hörer nicht und ließ die dramatische Handlung ganz für sich sprechen, was meiner Meinung nach wesentlich zu dieser so gelungenen Interpretation beigetragen hat.

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