Opernnetz

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Foto © Bettina Stöß

Aktuelle Aufführungen

Verschachtelt

IL BARBIERE DI SIVIGLIA
(Giacchino Rossini)

Besuch am
4. Juni 2016
(Premiere)

 

 

Aalto-Musiktheater Essen

Ah, ah! che bella vita … So beginnt als siebte Nummer in Gioacchino Rossinis Il barbiere di Siviglia eines der ausgreifendsten Rezitative der Oper überhaupt. Drei Personen teilen es sich und treiben so das Geschehen voran: Figaro, Graf Almaviva alias Lindoro und – in einer kurzen Sequenz – Rosina. Es dauert an die siebeneinhalb Minuten! In diesen schweigt das Orchester bei Ausnahme eines knappen Lauten- oder Gitarrenspiels. Jene Musiker also, die in Figaros Bravourarie Largo al factotum direkt davor unter Beweis gestellt haben, wieviel Rossini-Spirit sie in sich haben oder eben nicht. Eine drastische Zäsur.

Rossini, der Aufsteiger des Genres aus Pesaro, umworben schon seit Jahren von den großen Theatern in Mailand, Rom und Venedig, zählt keine 24 Jahre, als er diese dramaturgische Zumutung 1816 in seine Opera buffa hineinkomponiert. Wer immer unter den Regisseuren sich an die grandiose Umsetzung der Dichtung von Cesare Sterbini aus der hochprofessionellen Theatermanufaktur des Piere-Augustin Beaumarchais wagt, ist gut beraten, bis zu diesem Rezitativ hinreichend Suspense aufgebaut zu haben, um sein Publikum bei der Stange zu halten.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Jan Philipp Gloger, dem ausgewiesenen Theaterregisseur, gelingt das in Essen zweifellos. Seine Inszenierung des jetzt 200 Jahre alten jungen Opern-Knüllers setzt von Beginn an auf dramatische Theateraffekte, unkonventionelle Rolleninterpretationen, innovative Spiele mit Raum und Requisite. Die Schlüsselfigur in Glogers Konzept ist der Tausendsassa Figaro, was prima vista banal erscheint, es aber im Aalto-Theater nicht ist. Sein Metier übt dieser Barbier dann auch nur ein einziges Mal aus, als er im zweiten Akt Don Bartolo zur Rasur bittet. Vielmehr und dann gleich im doppelten Sinne ist er der Dirigent des Geschehens, der im Tohuwabohu der von Eitelkeit, Gier und Machtgelüsten Getriebenen die Fäden zieht und zu Beginn gar den direttore d‘orchestra mimt. Da steht zunächst bei geschlossenem Vorhang dieser Barbier, der die Protagonisten im Folgenden nach Belieben einseifen wird, auf einer Kiste Aug in Aug mit dem Publikum und dem echten musikalischen Leiter und gibt in der Attitüde des Zirkusdirektors den musikalischen Supervisor. Anschließend, jetzt bei offener, im Übrigen bis zur Brandmauer leeren Bühne rollt dieser Figaro auf einem Elektromobil eine neuerliche Kiste heran – eben das Momentum, aus dem heraus sich die Handlung und der rote Faden dieser Inszenierung entwickeln werden.

Foto © Bettina Stöß

Kisten und Schachteln sind von nun an die durchgängige, stets präsente Folie dieser Regiearbeit, die sich vielleicht spekulativ deuten, aber wahrscheinlich nicht gänzlich entschlüsseln lässt. Ben Baur, der Bühnenbildner, hat sie in vielerlei Varianten ersonnen, mit und ohne Schleifen, manche wie die russischen Matrjoschkas ineinander greifend. Verschachtelt, fürwahr, ist dieser Plot voll von Intrigen, Schurkereien, von Häme und gnadenloser Verachtung. Zu tun haben soll er obendrein auch noch mit der Gegenwart. Die im Design von Heute geschneiderten Kostüme von Marie Roth versperren nämlich dem Publikum den bequemen Ausweg, es handle sich da um Querelen aus einer vergangenen Zeit. Im Gegenteil. „Ich finde“, skizziert Gloger, seit seiner Holländer-Inszenierung 2011 für die Bayreuther Festspiele in der Szene ein Begriff, seinen Zugang zu dieser bitterbösen Komödie, „der Stoff passt sehr in unsere Zeit.“

Auf der Bühne ist eine zündende Regieidee dann ein Wert an sich, wenn sie funktioniert, bei der Vermittlung des Stoffs wie gegenüber der Wahrnehmung der Theaterbesucher. Das stellt sich beim Stilmittel der Schachtel, der Kiste letztlich nicht ein. Weder vermag sie die Aufführung bis in das Rondo des zweiten Finales ohne Ermüdungserscheinungen zu tragen. Noch verträgt sie sich überzeugend mit dem Milieu dieser Galanterie der Schrecknisse, die im Original für den ersten Akt mit „Ein Platz in Sevilla“ umschrieben ist. Speziell im zweiten Akt werden die Grenzen dieser Regieidee, die vielleicht nur anders und sonst nichts weiteres sein will, mehr als schmerzlich spürbar. Je mehr eine überdimensionierte Schachtel zur Bühnenpräsenz an sich wird, desto mehr stellen sich die Verluste dieser Denaturierung der Komödie gleich serienweise ein, so beispielsweise in der Szene mit dem Notar oder in der Gewitterszene. „Warum nur muss ich die ganze Zeit in ein Holzdreieck schauen?“ wendet sich im Parkett eine Besucherin an ihren Sitznachbarn. Eine schon rhetorische Frage.

Scheint anfänglich die Hoffnung auf einen besonderen Opernabend begründet, so schwindet diese Hoffnung nach und nach wie die des Don Bartolo, aus der verzwickten Sache noch heil herauszukommen. Gloger versteht die Protagonisten des Stücks wie Marionetten, die sich nach Rossinis Maschinenmusik als ferngesteuerte Puppen bewegen. Das ist durchaus auf den Punkt gebracht, läuft sich allerdings durch den permanent hochtourigen und überdrehten Einsatz an artifiziellen Bewegungsmustern von der Commedia dell’Arte bis hin zum Slapstick und der Screwball Comedy leer. Schade, weil zum Beispiel ein simples Einfrieren einer Szene auch nur für Sekunden aus dieser Spirale der Ermüdung hätte herausführen können. Bedauerlich auch, weil Rossinis Musik im Zweifel eh der beste Erzähler ist.

Zum Glück und immer wieder unschlagbar gibt es diesen Geniestreich des 23-jährigen Rossini. Er stellt am Ende sicher, dass in der letzten Produktion der aktuellen Spielzeit, einer veritablen Eigenproduktion des Aalto-Theaters, die Pluspunkte überwiegen. Ein Verdienst vor allem Giacomo Sagripantis, der die Essener Philharmoniker glänzend eingestellt hat und in blendender Verfassung präsentiert. Unter der so präzisen wie einfühlsamen Leitung des Belcanto-Spezialisten, der im Oktober mit einer szenischen Norma auch die Eröffnungspremiere in der kommenden Aalto-Spielzeit dirigieren wird, agieren die Philharmoniker prächtig. Pompös der Tutti-Sound, filigran die subtilen Passagen, die die Partitur jenseits aller Crescendo-Exzesse in sich birgt. So etwa federleicht-jubelnd die Soloklarinette – eine Passion, die Rossini hörbar direkt von Mozart übernommen hat. Auf Witz verstehen sich Sagripanti und die Seinen überdies. Spontan wirkt das eingestreute Zitat aus der Caravadossi-Arie E lucevan di stelle aus Puccinis Tosca im Parkett, um nicht zu sagen: schlagend.

Das Ausrufezeichen gegen Ende der Essener Spielzeit 2015/16 ist nicht zuletzt eine Ensemble-Leistung. Lediglich Juan José de Léon, der den Grafen Almaviva gibt, ist als Gast dabei. Der amerikanische Tenor, in der derselben Partie auch vom Management der Arena di Verona gebucht, absolviert seinen Part hoch professionell, gut situiert in allen Lagen, aber mit einem merkwürdigen Mangel an vokalem Schmelz. Georgios Iatrou hat als Figaro in dieser Inszenierung alles, wie gesagt, in der Hand, das aber vornehmlich als Schauspieler. Sein Bariton ist technisch ausgereift, es fehlt ihm aber, um die ihm von Gloger zugedachte Supervisor-Funktion voll auszufüllen, an Volumen und wohl auch an Timbre. Das soll aber seiner imposanten Gesamtleistung letztlich keinen wesentlichen Abbruch tun.

Karin Strobos ist als Rosina eben nicht der Typus des anschmiegsamen, lieblichen Bürgermädchens, wie er in vielen Barbiere-Inszenierungen die Bühnen der Welt bevölkert. Weil gerade gegen die Konvention gefasst, avanciert sie zur Entdeckung dieser Produktion – kess, schrill, eine wahre vipera, wie es in ihrer Auftrittsarie Una voce poca fa so trefflich heißt. Sie fährt in Knallrot, als wolle sie die Katzenberger der Buffa-Szene von heute werden, die Krallen aus und meistert die Anforderungen der Partie, auch die einiges verlangenden Koloraturen mit souveräner Geschmeidigkeit. Fürwahr, ihr ist jede Trappole, jede List, zuzutrauen. Baurzhan Anderzhanov, dessen inspirierte Gestaltung des Colline in La Bohème dem Essener Publikum noch in bester Erinnerung sein dürfte, imponiert als Bartolo gesanglich. Unter dem Aspekt des Schauspielerischen dürfte die  Rolle des betulichen Vormunds für den Jugendlichkeit ausströmenden Bass wohl noch zu früh sein. Über weite Strecken agiert sein Dr. Bartolo zudem im weißen Kittel des Chefarztes einer Klinik, die man sich durchaus als eine Psychiatrie denken kann, für leichtere Fälle natürlich. Großes Vergnügen, sofern und soweit man die Stilisierung des Musiklehrers Don Basilio zur Kopie eines grimmigen Heavy-Metal-Gitarristen mag, bereitet Tijl Faveyts mit voluminöser ausdrucksstarker und unermüdlicher Bass-Stimme.

Das weitere Völkchen in diesem Labyrinth der Triebe macht seine Sache mehr als gut. An De Ridder punktet als Berta komödiantisch und dann auch musikalisch mit ihrer kessen Solonummer im zweiten Akt. Kai Preußker ist ein unauffälliger, aber angenehm singender Fiorillo. Markus Weiß verdient sich als buckelnder und ruckelnder Diener Ambrogio ein besonderes Kompliment. Seine Einlage am Boden, koksend und sich verzückt in endlosen Schrauben in sich selbst drehend, reicht bis zur scheinbaren Selbstaufgabe. Die Herren des Opernchors des Aalto-Theaters, einstudiert von Patrick Jaskolka, sind stimmlich in famoser Verfassung. Kein Wunder, hat ihnen doch Rossini Material auf die Kehlen geschrieben, das kaum sangbarer sein dürfte. Zudem dürfen sie ihre Freude an wechselnder Kostümierung ausspielen, zu Beginn als Quasi-Orchester auf der Bühne, am Ende in Polizeiuniformen von heute. 

Di si felice innesto – das Finaletto nach Auflösung aller Irrungen vereint die Akteure in einem kurzen, aber umso heftigeren Rausch all der Sinne, die eine Rossini-Buffa verströmen kann. Lichtblitze geben der Szene die Illusion der Verschmelzung von Verstörung wie Versöhnung. Die große Schachtel ist hier schon längst weggeklappt, der Genuss, wie er sich im brausenden Jubel des Publikums manifestiert, nun vollkommen. Mehrere Vorhänge für die künstlerisch Verantwortlichen. Nicht schlecht stehen sie im Aalto, die Zeichen für alles Kommende. Ganz besonders nicht für das Ensemble, wenn es so prächtig zum Zuge kommen kann.

Ralf Siepmann