Wo sind denn da die Zigeunerinnen? Die Zigarettenfabrik? Der eifersüchtige Soldat? Der Torero? Ich erinnere mich noch gut daran, dass diese Fragen in meinem Kopf gekreist sind, als ich mit 14 Jahren das erste Mal Georges Bizets Carmen an der Oper Graz in der Inszenierung von Stefan Herheim gesehen habe. Meine Großmutter hatte mir vor dem Opernbesuch die Handlung beschrieben, aber spätestens zur Pause war ich mir nicht mehr sicher, ob ich tatsächlich in der richtigen Oper saß. Umso spannender war es nun, neun Jahre später, diese Inszenierung nochmals zu erleben. Ich muss jedoch gestehen, dass sich mir Herheims Inszenierung – dieses Mal in der szenischen Einstudierung von Christiane Lutz – auch auf den zweiten Blick nicht zu hundert Prozent erschlossen hat.

Er konzentriert sich nämlich weniger auf die tatsächliche Handlung zwischen den Charakteren als auf grundsätzliche Themen, etwa das Verhältnis zwischen Freiheit und Kunst sowie die Frage nach der Wirklichkeit. Weder Carmen noch Don José scheinen leibhaftige Figuren zu sein, sondern verkörpern jeweils eine Projektion des anderen sowie in gewisser Weise auch ein Kunstwerk, das von der Museumswand ins Leben klettert. So wird aus der Museumsputzfrau immer wieder Carmen und aus dem Wächter Don José; durch diese zusätzliche Ebene wird man als Zuschauer allerdings immer wieder aus der direkten Dramatik der Handlung geworfen. Optisch ist die Inszenierung jedoch ein opulenter Genuss und auch musikalisch ging es feurig zu.

Dirk Kaftan hielt sich nicht lange mit Sentimentalitäten der Partitur auf, sondern brauste von der Ouvertüre weg flott dahin. Das Grazer Philharmonische Orchester hielt mit den Tempi seines Chefdirigenten locker mit und ließ die sonnige Glut Spaniens in warmen Klangfarben und Nuancen überbordend auflodern. So gut diese Herangehensweise funktionierte, litt doch besonders das Duett zwischen Micaela und Don José im ersten Akt an der fehlenden Zartheit und dem gar raschen Tempo. Auch dem Zwischenspiel vor dem dritten Akt fehlte es für meinen Geschmack etwas an Sentimentalität und Tränen in der Musik. Da aber ohnehin der Großteil der Carmen von spannungsgeladenen Emotionen lebt, konnte das Orchester diese kleinen Wermutstropfen mit einer elektrisierenden Interpretation vergessen machen, der auch praktisch alle Sänger in Sachen Temperament in nichts nachstanden.

Mit üppig strömender Stimme machte sich Dshamilja Kaiser sowohl die Rolle der Carmen als auch die ungeteilte Aufmerksamkeit des Publikums von der ersten Sekunde an zu eigen. Angesichts ihres samtigen Timbres, der strahlenden Höhen und satten Tiefen sowie der vielschichtigen Schattierungen von Verführerischkeit, mit denen sie Don José umgarnte, war es gar nicht weiter verwunderlich, dass dieser sich ihrer Reize nicht sonderlich lange erwehren konnte. Von sanft schmeichelnd über selbstbewusst fordernd bis hin zu völlig entnervt von Josés Unfähigkeit, das Ende ihrer Liebelei zu akzeptieren, stattete Kaiser die Carmen mit einer großen Palette an klanglichen Farben und Emotionen aus. Dabei verkörperte sie stets eine unabhängige und lebensbejahende Frau, die sich am Ende ihrem Schicksal so selbstbewusst stellte und ihrem eifersüchtigen Ex so bestimmt gegenübertrat, dass es mich nicht gewundert hätte, wenn hier einmal nicht Carmen von José erstochen wird, sondern sich die Machtverhältnisse umgekehrt hätten.

Diese finale Konfrontation war es auch, in der Martin Muehle seine stärksten Momente hatte, da er hier der ganzen Kraft seiner Stimme uneingeschränkt Raum geben konnte und als leicht beleidigter Eifersüchtler zur Höchstform auflief. In den Akten zuvor hätte ich mir gewünscht, dass er seine stählern-dunkle Stimme mit beeindruckend bombensicheren Spitzentönen auch mal ein wenig zurückschraubt und sanfteren Phrasierungen mehr Raum gibt. Sein Spiel zeichnete nämlich einen etwas schüchternen Soldaten, der einerseits von Micaela gelangweilt, andererseits von Carmen überfordert ist, wozu seine sehr kraftvolle und verschwenderische gesangliche Interpretation nicht immer so recht passen wollte.

Mädchenhaft zart und wunderbar lyrisch gestaltete Sophia Brommer die Micaela und verzauberte dabei mit ihrer innigen Arie im dritten Akt, bei der sie fein gesponnene Phrasen mit leuchtenden Bögen verwob. Einige Probleme schien dagegen Markus Butter mit der Partie des Escamillo zu haben. Stellenweise verschluckte ihn das Orchester regelrecht, dann wieder wirkte die Stimme in den tiefen Lagen sehr angestrengt. In der Mittellage fühlte er sich später aber hörbar wohler, sodass er nicht nur in der Darstellung, sondern auch stimmlich den stolzen Spanier gab. Abgerundet wurde die Ensembleleistung durch die kleinen Rollen sowie durch den Chor, der zwar im ersten Akt zunächst einige Unstimmigkeiten mit dem Orchester bezüglich des Tempos zu haben schien, dann aber wie gewohnt differenziert und zusätzlich spielfreudig agierte. Als Sidekicks in Drag sorgten Ivan Oreščanin und Taylan Reinhard als Dancairo und Remendado für die heiteren Momente; Tatjana Miyus und Anna Brull gaben die ebenso schönstimmigen wie temperamentvollen Zigeunerinnen Frasquita und Mercédès.

Auch wenn Stefan Herheims Inszenierung sich mir letztlich nicht gänzlich erschloss, als opulentes Gemälde mit unheimlich vielen Details erfreute sie das Auge in jedem Falle und die musikalische Leistung des Abends spricht ebenso sehr dafür, einen Opernabend mit dieser Carmen zu verbringen.

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