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Schottische Schauerromantik im NachkriegsdeutschlandVon Thomas Molke / Fotos von Bernd UhligWenn ein Opernhaus gegen den König Fußball antritt und dann zeitgleich das zweite Gruppenspiel der deutschen Nationalmannschaft bei der Fußball-Europameisterschaft übertragen wird, muss schon etwas Besonderes auf den Spielplan gestellt werden. Donizettis Belcanto-Oper Lucia di Lammermoor ist diesbezüglich eine sichere Bank. Großartige Melodienbögen, eine der berühmtesten Wahnsinns-Szenen der Opernliteratur und andere musikalische Höhepunkte versprechen Belcanto vom Feinsten, und so verwundert es nicht, dass bei der zweiten Vorstellung trotz des Deutschland-Spiels relativ wenige Plätze im Staatenhaus, der momentanen Ersatzspielstätte der Oper Köln, frei blieben. Musikalisch ließ der Abend auch keine Wünsche offen. Ob das Regie-Konzept von Eva-Maria Höckmayr jedoch ebenfalls auf breite Zustimmung stieß, lässt sich bei der zweiten Aufführung schlecht beurteilen, da sich das Produktionsteam ja nicht noch einmal dem Publikum gestellt hat. Und fragwürdig war mancher Ansatz von Höckmayr schon. Lucia (Olesya Golovneva) und ihr Bruder Enrico (Boaz Daniel) Zunächst einmal befürchtet Höckmayr, dass dem Publikum der Grundkonflikt der Geschichte, der kurz nach der Glorious Revolution von 1688/1689 in Schottland spielt, nicht mehr so vertraut sein dürfte wie den Zuschauern der Uraufführung, die die literarische Vorlage von Sir Walter Scott relativ gut kannten. Die Ravenswoods sind bei ihr folglich keine Jakobiten, die nach der Absetzung des schottischen Königs ihren Besitz an die Ashtons verloren haben, die der neuen Regierung ihren Aufstieg zu verdanken haben, sondern eine jüdische Industriellenfamilie, die im Dritten Reich von den Nationalsozialisten enteignet worden ist. Edgardo Ravenswood kehrt nun als letzter Überlebender an den Ort seiner Kindheit zurück und verliebt sich in Lucia, die Tochter der Ashtons, die seine Liebe erwidert. Christian Schmidt hat sich bei seinem Bühnenbild vom Haus Tugendhat inspirieren lassen, das Ludwig Mies van der Rohe für den jüdischen Großindustriellen Fritz Tugendhat als Stahlbetonbau mit freitragenden Stützen und fließenden Räumen entwarf und welches heute zum UNESCO-Weltkulturerbe zählt. Hier haben sich die Ashtons niedergelassen und dokumentieren mit einem großen Familiengemälde in Lucias Schlafzimmer im ersten Stock, das eine traute deutsche Familienidylle in Trachten zeigt, ihren Herrschaftsanspruch. Doch auch ihnen droht nach Ende des Krieges die Enteignung, so dass Enrico Ashton nach dem Tod der Eltern nur noch die Möglichkeit sieht, seine Schwester Lucia mit dem einflussreichen Arturo Bucklaw zu verheiraten. Edgardo (Atalla Ayan, Mitte oben) platzt in Lucias (Olesya Golovneva) Hochzeit (oben links: Raimondo (Henning von Schulman), oben rechts: Enrico (Boaz Daniel), unten: Chor). Höckmayr lässt während der Ouvertüre und im weiteren Verlauf des Stückes immer wieder Statisten als Schatten der Vergangenheit auftreten, die mal die Ravenswoods, mal Enrico und Lucia als Heranwachsende zeigen. So sieht Edgardo bereits während der Ouvertüre in einer Retrospektive, wie seine Familie das Haus bezieht. Er selbst ist zu der Zeit noch ein kleiner Junge, der den gleichen roten Schal trägt, mit dem er auch Jahre später zu dem Haus zurückkehrt. Einige Jahre später tollen dann Enrico und Lucia als Heranwachsende - sie im feschen Dirndl, er in zünftiger Lederhose - in dem Haus herum. Bis dahin lässt sich die Geschichte gut nachvollziehen, und es spielt eigentlich gar keine Rolle, ob sie nun in Schottland oder im Nachkriegsdeutschland spielt. Dann greift Höckmayr allerdings in die Figurenkonstellation ein und entwickelt zwischen den Geschwistern Enrico und Lucia eine inzestuöse Beziehung. Als Heranwachsende kommen sie sich zunächst bei einer Art Doktorspielchen näher, bevor es dann nach der Hochzeit mit Arturo nicht Lucia ist, die ihren Gatten ermordet, sondern Enrico, der seinen Schwager scheinbar aus Eifersucht mit der Nachttischlampe erschlägt. Im Wahn tötet sich Lucia dann im Schlafzimmer nicht nur selbst, sondern erschießt ihren Bruder gleich mit. Lucia (Olesya Golovneva) bei ihrer großen Wahnsinnsarie Bleiben szenisch auch einige Fragen offen, überzeugen die Solisten auf ganzer Linie. Olesya Golovneva glänzt in der Titelpartie wie schon vor drei Jahren als Anna Bolena (siehe auch unsere Rezension) mit dramatischem und höhensicherem Sopran und braucht den Vergleich mit berühmten Interpretinnen dieser Partie keineswegs zu scheuen. Schon in ihrer ersten großen Arie im ersten Akt, "Regnava il silenzio", wenn sie ihrer Dienerin Alisa die Geschichte von der an der Quelle erstochenen Frau erzählt, die ihr immer wieder als Geist erscheint, begeistert Golovneva mit zart angesetzten Spitzentönen, die den fragilen Charakter der Person unterstreichen. Die Quelle ist bei Höckmayr ein großer vor dem Haus angelegter rechteckiger Swimming-Pool, dessen Wasser durch eine geschickte Lichtregie von Nicol Hungsberg doch ein bisschen Schauerromantik verbreitet, wenn es vor dem Schlafzimmer Lucias reflektiert. Zur Begleitung der großen Wahnsinnsarie im dritten Akt wird, ähnlich wie schon in Liège vor ein paar Monaten, nicht eine Flöte, sondern eine Glasharmonika eingesetzt. Dieses Instrument hatte Donizetti eigentlich schon für die Uraufführung in Neapel vorgesehen, musste aus Kostengründen allerdings darauf verzichten. Die Fassung mit der Glasharmonika wurde erstmalig 1991 unter Michel Plasson in München gespielt. Wenn Lucia dann in ihrer Arie "Il dolce suono" von der Hochzeit mit Edgardo träumt, wird durch die besondere Vibration des Glases ein seltsam hohler Klang erzeugt, der den Gemütszustand Lucias zu diesem Zeitpunkt eindrucksvoll beschreibt. Auch szenisch setzt Golovneva die Wahnsinnsarie bewegend um. Edgardo (Atalla Ayan, unten Mitte) plant ein Duell mit Enrico, während Lucia (Olesya Golovneva, oben) sich mit Arturo (Taejun Sun, oben) auf die "Hochzeitsnacht" vorbereitet (unten links: Alisa (Judith Thielsen) und Raimondo (Henning von Schulman), unten rechts: Normanno (Ralf Rachbauer)). Auch wenn Höckmayrs Personenregie bei Lucias Bruder Enrico mit dem doch sehr fragwürdigen Verhältnis zu seiner Schwester diskutabel ist, ist Boaz Daniels stimmliche Interpretation der Figur über jeden Zweifel erhaben. Mit kräftigem Bariton macht Daniel vor allem im Racheschwur im ersten Akt die Härte dieser Figur erkennbar. Atalla Ayan geht zwar als Edgardo durch leichtes Forcieren in den Höhen bis an seine stimmlichen Grenzen, lässt aber sowohl im Duett mit Golovneva im ersten Akt als auch in seiner großen Schlussarie "Tu che a Dio spiegasti l' ali" tenoralen Glanz verströmen. Auch die kleineren Partien sind mit Taejun Sun als Arturo, Henning von Schulman als Raimondo, Judith Thielsen als Alisa und vor allem Ralf Rachbauer als Normanno gut besetzt. Einen weiteren musikalischen Höhepunkt stellt des große Sextett "Chi mi frena in tal momento" vor der Pause dar, wenn Edgardo in Lucias Hochzeit mit Arturo platzt und sie der Untreue beschuldigt. Der von Sierd Quarré einstudierte Chor überzeugt stimmlich wie szenisch, und auch das Gürzenich-Orchester Köln unter der Leitung von Eun Sun Kim sorgt dafür, dass das Publikum an diesem Fußballabend in großartigen Melodienbögen schwelgen kann. So gibt es am Ende frenetischen Beifall für alle Beteiligten, der nur während des Stückes nach einzelnen Bravourarien etwas zurückhaltender ist. Vielleicht ist man doch bemüht, die im Programmheft angekündigten drei Stunden der Aufführung nicht ganz auszuschöpfen, um noch vor Ende des Fußballspiels die Oper zu verlassen.
Musikalisch ist in Köln Belcanto auf hohem Niveau zu erleben. Szenisch sind manche Ansätze von Eva-Maria Höckmayr zu hinterfragen. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Musikalische Leitung Inszenierung Bühne Kostüme Licht Chorleitung Dramaturgie
Gürzenich-Orchester Köln
Glasharmonika Chor der Oper Köln Statisterie der Bühnen Köln Solisten*rezensierte Aufführung Enrico
Lucia
Edgardo Arturo
Raimondo
Alisa Normanno
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