Der Dicke und die Dutzendmenschen

Giuseppe Verdis letzte Oper «Falstaff» fordert echte Typen: In Genf hört man das aus dem Graben – auf der Bühne, in der phantasievollen, aber braven Inszenierung von Lukas Hemleb, sieht man es nicht.

Christian Wildhagen, Genf
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Mach mir den gehörnten Ochsen: Alice Ford (Maija Kovalevska) und Falstaff (Franco Vassallo) im Freier-Kostüm. (Bild: Carole Parodi / GTG)

Mach mir den gehörnten Ochsen: Alice Ford (Maija Kovalevska) und Falstaff (Franco Vassallo) im Freier-Kostüm. (Bild: Carole Parodi / GTG)

Verdis Opern sind Opfer des Zeitgeistes. Jüngst erst verweigerte eine Produktion des «Otello» an den Salzburger Osterfestspielen eine klare Festlegung in der schon länger problematisierten Frage, welcher Hautfarbe eigentlich der Titelheld sei – als wäre das eine Frage des Ermessens und nicht der dramaturgische Knackpunkt in Shakespeares Dramenvorlage. Nach der gleichen Logik darf Aida zwar seit den Tagen von Regie-Revoluzzer Hans Neuenfels als Reinigungskraft bei Familie Pharao den Schrubber schwingen, aber bitte nicht – wie es das Libretto vorgibt – als Äthiopierin und verschleppte Sklavin. Demnächst ereilt es voraussichtlich die zahllosen wahrsagenden «Hexen» und «Zigeunerinnen» in Verdis Opern, die schon heute oft so blutarm daherkommen, als wären sie astrologische Zukunftsberaterinnen. Vollends prekär wird es freilich beim Helden von Verdis letzter Oper – der ist ein fresssüchtiger Fettwanst, ein noch schlimmerer Alkoholiker und obendrein ein unbelehrbarer Frauenheld. Darf man über so einen überhaupt noch lachen?

Leibesnot

Der Regisseur Lukas Hemleb ist sich da bei seiner Genfer Neuinszenierung des «Falstaff» in der Opéra des Nations, dem Ausweichquartier des Grand Théâtre, nicht so sicher. Jedenfalls ist sein Sir John nicht jenes dionysische Urvieh von latent komischer Gestalt und bedrängender physischer Präsenz, wie ihn etwa Ambrogio Maestri, der führende Falstaff-Interpret unserer Tage, auf die Bühne wuchtet. Der junge Bassbariton Franco Vassallo muss ohne übermässigen Rauschmittelkonsum und auch ohne ein Ehrfurcht gebietendes Embonpoint auskommen, obwohl doch, laut Arrigo Boitos Text, Tausende von Stimmen in diesem «Königreich» des Dicken hausen und voll Inbrunst seine Körperfülle preisen. Darstellerisch bleibt Vassallo denn auch gesittet, ja ein bisschen brav – eher der Typus des heruntergekommenen Edelmannes, der lediglich aus Geldmangel, nicht aber gleichermassen aus urwüchsiger Leibesnot seine gleichlautenden Liebesbriefe an die beiden unlustigen Weiber von Windsor verschickt.

Obwohl Vassallo die Partie sängerisch erfreulich agil, dynamisch differenziert und aus dem Wort heraus gestaltet, nimmt man ihm deshalb gerade die entscheidende Wendung jeder «Falstaff»-Aufführung nicht ab: jenen Moment im letzten Bild, in dem der von allen bis aufs Blut Gefoppte gleichsam aus dem Geschehen tritt, sich bewusst zur Zielscheibe des Spottes und zum «Salz in der Suppe» erklärt und damit über die moralinsaure Empörung der «sorta di gente dozzinale», der «Dutzendmenschen» rund um ihn her, erhebt.

Hemleb verfolgt, wie er im Programmheft erläutert, auch bei den übrigen Protagonisten die Strategie, die Figuren stark aus der Persönlichkeit des jeweiligen Sängers zu entwickeln. Die gutgemeinte Idee kreiert allerdings keine starken Charaktere und führt bei der Alice von Maija Kovalevska zu spielopernhaften Übertreibungen, die eher in Otto Nicolais Stück-Pendant ihren Platz fänden. Dass diese Frau, gefangen in einer sprachlosen Ehe mit dem Spiesser Ford, im Grunde ihres Herzens womöglich doch nicht nur mit dem lebensprallen Ritter spielt, wie es tiefer in die Charaktere dringende Inszenierungen zeigen, bleibt hier unausgeführt. Ähnlich fehlt es dem mit Konstantin Shushakov untadelig, aber sehr jung besetzten Ford an jener ironischen Lebenstiefe, die dessen grosse Szene «È sogno o realtà» zu einer doppelbödigen Parodie sämtlicher Eifersuchtsmonologe in Verdis Opernschaffen machen kann.

Zauberhaft gelingt hingegen die «Sommernachtstraum»-Stimmung des Schlussbildes, auch dank den phantasievollen und aufwendigen Kostümen von Andrea Schmidt-Futterer. Und hier enthüllt endlich auch das zentrale Ausstattungsobjekt des Berliner Bildhauers, Malers und Bühnenbildners Alexander Polzin seinen Sinn: Was bis dahin aussah wie ein unablässig kreisender hohler Zahn, entpuppt sich nun als die sagenumwobene Herne-Eiche Shakespeares, ein Ungetüm mit langer Troll-Nase und tiefem Schlund, der ununterbrochen Fabelwesen ausspuckt und der zur Feenkönigin erhobenen Nannetta von Amelia Scicolone als Thron dient. Am Ende wird Falstaff darin – diesen charmanten Gag hat Hemleb stimmig vorbereitet – zumindest bei der resoluten Mistress Quickly von Marie-Ange Todorovitch zum Zuge kommen.

Der Witz des Alterswerks

John Fiore entwickelt am Pult des Orchestre de la Suisse Romande ein gutes Gespür für die heikle Akustik in dem hölzernen Behelfsbau an der Place des Nations. Nie knallig, aber auch nicht weichgezeichnet klingt dieser Verdi, vielmehr pointiert und durch virtuose Leistungen an allen Pulten so farbig, dass sich der Reichtum wie auch der Witz dieses unsagbar inspirierten Alterswerks wenn schon nicht auf der Bühne, so doch im Graben in ganzer Pracht entfalten.