Um die Welt mit dem kleinen Karlheinz

Stockhausens «Donnerstag aus ‹Licht›» vermengt Autobiografie, die Suche nach Erkenntnis und private Religionsstiftung. Die Schweizer Erstaufführung am Theater Basel rettet diese moderne «Faust»-Oper für das Repertoire – ein Meilenstein.

Christian Wildhagen 6 min
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Stockhausen-Gurus kennen letzte Wahrheiten: Rolf Romei (Mitte), Paul Hübner (Trompete) und das Basler Ensemble. (Bild: Sandra Then)

Stockhausen-Gurus kennen letzte Wahrheiten: Rolf Romei (Mitte), Paul Hübner (Trompete) und das Basler Ensemble. (Bild: Sandra Then)

Kinder, schafft Neues! Diese Forderung stammt nicht etwa von einem unverbesserlichen Avantgardisten, geschweige denn von einem Vorkämpfer der Neuen Musik. Sie stammt von Richard Wagner, und noch heute berufen sich Regisseure und andere Interpreten auf die Offenheit, die der vermeintlich so dogmatisch gesinnte «Gesamtkunstwerker» mit diesem Ausruf gegenüber anderslautenden Deutungsansätzen bekundete.

Die Maxime gewann zumal für den Neubeginn der Wagner-Interpretation nach 1945 Bedeutung: als es galt, den einstigen Zukunftsmusiker aus der Umklammerung durch eine unselige, allenfalls den Status quo konservierende Wagner-Orthodoxie zu befreien. Genau dieser Schritt stand bis vor kurzem bei einem anderen Komponisten aus, dessen künstlerisches Denken, nolens volens, viel mit Wagner zu tun hat. Am vergangenen Wochenende befreite das Theater Basel Karlheinz Stockhausen endlich von sich selbst.

Ein Heldenleben?

Es ist kein Geheimnis: Stockhausen, der 2007 starb, neigte in späteren Jahren zu ideologischen Verengungen und allenfalls für blindgläubige Apologeten nachzuvollziehenden Verbiegungen seiner Weltsicht, die zunehmend esoterische, ja teilweise privatreligiöse Züge annahm. Seine allein vor diesem Hintergrund zu verstehenden (und dennoch unbegreiflichen) Äusserungen zu den Anschlägen vom 11. September 2001, die er in einer verunglückten dialektischen Volte als «das grösste Kunstwerk, was es je gegeben hat» bezeichnete, haben dem Nachleben seines Werks vermutlich mehr geschadet, als je eine Entgleisung eines anderen Künstlers auf dessen Werk zurückgewirkt hat.

Der Stern Stockhausens, der bis in die 1970er Jahre zu den wegweisenden und auch bedeutendsten Komponisten der Nachkriegsavantgarde gehörte, war freilich schon vorher am Sinken. Denn selbst viele Wohlgesinnte vermochten ihm nicht mehr in das geistige Universum seines «Licht»-Zyklus zu folgen, den er 1977 in Angriff nahm und an dem er über ein Vierteljahrhundert lang, bis zum Jahr 2005, arbeitete.

Dieser Werkzyklus, eine Heptalogie zu den sieben Tagen der Woche, die mit einer Gesamtspieldauer von knapp dreissig Stunden fast doppelt so lang ist wie Wagners «Ring des Nibelungen», vereinigt autobiografische, philosophische und mythisch-religiöse Momente zu einer allumfassenden Feier der eigenen Weltanschauung. Das Ergebnis ist ein Total-Theater, noch konsequenter und bedingungsloser als Wagners «Gesamtkunstwerk». Die sieben einzelnen Teile wurden zwischen 1981 und 2012 sukzessive an wechselnden Bühnen in Europa uraufgeführt, begleitet von etlichen gescheiterten Anläufen wie etwa der 2001 abgesagten Uraufführung des «Mittwoch» in Bern.

Wagnis und Kraftakt

Dass die Heptalogie bis dato noch nie in ihrer Gänze, als Zyklus und mit Wagners Bayreuth vergleichbares «Festspiel», gezeigt worden ist, hat freilich nicht allein mit inhaltlichen Fragwürdigkeiten oder mit den immensen aufführungspraktischen Schwierigkeiten zu tun. Lähmend wirken vielmehr auch die strikten Anweisungen, die Stockhausen zu beinahe allen Details und Parametern der szenischen Umsetzung hinterlassen hat. Sie erstrecken sich bis in Einzelheiten der Farbgestaltung und der Bewegungssprache auf der Bühne. Dass das Theater Basel nun zum ersten Mal seit der letzten Aufführung in London vor nicht weniger als 31 Jahren wieder eine Produktion des «Donnerstag aus ‹Licht›» zeigt, ist deshalb Wagnis und Kraftakt zugleich.

Doch die Basler Neuinszenierung der jungen amerikanischen Regisseurin Lydia Steier und ihres Teams ist noch weit mehr: Da sich Steier endlich die Freiheit nimmt, die künstlerischen Vorgaben des Komponisten nicht bloss zu reproduzieren, sondern kreativ weiterzudenken, ist sie ein Meilenstein für die gesamte Stockhausen-Rezeption.

Der Drache aus der Torte

Steier entwickelt ihre Regie aus dem gerade im «Donnerstag» besonders spürbaren autobiografischen Gehalt des Werks. Sie fällt dabei allerdings nicht auf die affirmative Strategie Stockhausens herein, der hier ein vielfach gespiegeltes und verklausuliertes, gegen Ende dann zunehmend religiös überhöhtes «Heldenleben» entwirft. Es zeigt in seinem schlichten Kern nichts anderes als den Aufstieg des Komponisten zum Guru seiner eigenen Kunst- und Weltanschauung.

Besonders der erste Akt, «Michaels Jugend» betitelt, liefert Steier mannigfache Anknüpfungspunkte für ihre stimmige Figurenkonzeption, ausserdem zahlreiche szenische Leitmotive, die sich durch die gesamte, knapp sechsstündige Aufführung ziehen. Der besagte Michael nämlich, obwohl von Stockhausen mit schwerem gedanklichem Rüstzeug aus dem «Buch Urantia» befrachtet (einer Offenbarungsschrift aus dem Jahr 1955, die der gnostischen Tradition nahesteht und eine der wichtigsten Bezugsquellen des «Licht»-Zyklus bildet), ist unschwer als Wiedergänger des Komponisten auf der Bühne zu erkennen.

Ohne Furcht vor der dem selbstverfassten Libretto innewohnenden Banalität zeichnet Steier eine Art Coming-of-Age-Geschichte des kleinen Karlheinz S. alias Michael. Diese rekurriert immer wieder, quasi tiefenpsychologisch, auf eine Schlüsselszene: das von Statisten mit idealisierten Puppenköpfen dargestellte Idealbild einer Geburtstagsfeier, bei der das Kind mit einer rosaroten Torte beschenkt wird.

Die familiäre Idylle freilich, sie zerbricht schon bald – und zwar exakt so, wie es Stockhausen selbst in jungen Jahren erlebt hat. Der Vater, im Stück Luzifer oder, überdeutlich, «Luzimon» genannt, entpuppt sich als despotischer Pedant – Simon Stockhausen senior war Mitglied der NSDAP und vermutlich an Verbrechen der Wehrmacht beteiligt. Die Mutter dagegen, Eva genannt, wird von schizophrenen Anfällen heimgesucht und in eine Nervenheilanstalt gebracht – Gertrud Stockhausen fiel 1941 in der Tötungsanstalt Hadamar dem Euthanasie-Wahn der Nazis zum Opfer.

Als Kontrapunkt zum Niedergang der Familie beschreibt Stockhausens hoch assoziatives, aber stellenweise ungelenkes Textbuch den unaufhörlichen Aufstieg Michaels: Am Ende des ersten Aktes wird er in die Musikhochschule aufgenommen, im zweiten reist er von Köln aus nach Bali, Indien und um die ganze Welt und hat schliesslich eine Art Erleuchtung, die ihn im dritten Akt den biblischen Kampf des namensgleichen Erzengels mit dem verführerischen Drachen Luzifer bestehen lässt.

Dieser Drache hat bei Steier und ihrer Bühnenbildnerin Barbara Ehnes einen spektakulären Auftritt aus der besagten rosaroten Torte. Auch sonst bindet die Regisseurin die ins Metaphysische ausgreifende Himmelfahrt und Verklärung Michaels immer wieder zurück an die traumatischen Erfahrungen des Knaben in seiner Jugend. So ist es in Basel nicht die Musikhochschule, sondern wiederum – Steier bricht die autobiografische Perspektive Stockhausens hier bewusst auf – eine Heilanstalt, in die Michael nach dem angedeuteten Gastod der Mutter aufgenommen (oder eingesperrt) wird.

Konsequenterweise erlebt Michael die Reise um die Welt nur in seinem frei schweifenden Geist, von der Inszenierung in teilweise ironischen Video-Einblendungen von Flower-Power-Happenings illustriert. Und auch seine religiöse Erhebung entpuppt sich als völlig aus dem Ruder laufende TV-Show einer zukunftsgläubigen Sekte. Die lässt ihren gebrochenen Anführer am Ende mit der Erkenntnis zurück, dass das Licht der Erleuchtung eben doch nicht vom Sirius kommt (wie Stockhausen zeitweise behauptete), sondern allenfalls aus dem produktiven Leben selbst.

Faust lässt grüssen

Durch den revueartig freien, im Ganzen aber durchaus nicht respektlosen Umgang mit dem Werk wird unversehens ein ungleich grösserer Stoff erkennbar, der sich wie eine Folie über Stockhausens eigenwillig zwischen Höchstem und Niederstem changierende Handlung legen lässt: «Donnerstag aus ‹Licht›» ist nichts anderes als eine «Faust»-Oper, die den Menschen, zerrissen zwischen Gut und Böse, in seinem Streben nach Erkenntnis zeigt.

Die von dem Dirigenten Titus Engel und Kathinka Pasveer am Mischpult souverän koordinierte Aufführung unterstrich die Ernsthaftigkeit dieses Anliegens. Bruchlos mischen sich die Klänge des auf der Bühne und im Graben placierten Basler Sinfonieorchesters mit den elektronischen Zuspielungen. Die Aufteilung der drei Hauptrollen in je einen Sänger, einen ebenfalls theatralisch agierenden Instrumentalsolisten sowie einen Tänzer führt zu einer szenischen Polyfonie, die dem Geschehen vielgestaltige optische wie akustische Perspektiven verleiht.

Namentlich der Trompeter Paul Hübner, instrumentales Alter Ego Michaels, vollbringt im rein konzertanten zweiten Akt meditative Klang-Wunder. Aber auch alle anderen Beteiligten, etwa der charismatische Tenor Rolf Romei als «Guru» Michael und die Sopranistin Anu Komsi als Ur- und Über-Mutter Eva, gehen vorbehaltlos in ihren Partien auf. Jetzt, da die Basler Produktion das Eis gebrochen und den «Donnerstag» mit ihrem beherzten Zugriff für das zeitgenössische Musiktheater gerettet hat, bleibt nur zu hoffen, dass sich bald weitere Bühnen zumindest an diesen Teil des «Licht»-Zyklus wagen.

Mehr von Christian Wildhagen (wdh)

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