Sogar die Kathedrale stürzt ein

Die Festspiele Sankt Gallen trotzen den Gewalten des Wetters mit Jules Massenets imposantem Historiendrama «Le Cid». Die Inszenierung bindet den Spielort im Klosterhof auf beziehungsreiche Weise ein.

Christian Wildhagen
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Noch steht sie: Die Kathedrale spielt mit bei Jules Massenets «Le Cid» an den St. Galler Festspielen. (Bild: Tanja Dorendorf / T+T Fotografie)

Noch steht sie: Die Kathedrale spielt mit bei Jules Massenets «Le Cid» an den St. Galler Festspielen. (Bild: Tanja Dorendorf / T+T Fotografie)

Um ein Haar hätte der Wettergott den Volkshelden besiegt. Pünktlich zum Beginn der elften St. Galler Festspiele am Freitagabend öffnete der Himmel seine ohnehin seit Tagen undichten Schleusen, und der Regen tauchte den Klosterhof vor der Kathedrale in ein unwirtliches Grau in Grau. Nicht gerade das geeignete Ambiente für eine Oper, die unter südlicher Sonne den spanischen Granden Rodrigo Díaz de Vivar, genannt «El Cid», besingen will. Während sich das Publikum auf der Freilicht-Tribüne in eine Kohorte aus pittoresk wogenden Klarsicht-Pelerinen verwandelte, warteten die Verantwortlichen eine Viertelstunde ab, entschieden dann aber doch, mit der Aufführung von Jules Massenets Oper «Le Cid» zu beginnen. Es war, wie sich bald herausstellte, die richtige Entscheidung.

Parallelen zu «Aida»

Nicht dass sich die Elemente der Musik sogleich kampflos ergeben hätten – womöglich hätten dies angemessen dräuende Klänge von Beethoven und ganz gewiss solche von Wagner vermocht; nicht aber die feinsinnigen Seelentöne Massenets, und so rieselte das Nass noch eine gute halbe Stunde weiter auf Capes und Kostüme. Erfreulicherweise tat dies weder der Stimmung noch der Aufführung erkennbar Abbruch, und nicht zuletzt der Reiz des Stückes machte die Umstände schliesslich vergessen. Denn «Le Cid» von 1885, der im deutschsprachigen Raum noch immer im Schatten von Massenets Erfolgsopern «Manon» und «Werther» steht, ist ein Meisterwerk der späten Grand Opéra, die in diesem Historiendrama zugleich ihre heute oft so problematische Fixierung auf Ausstattungsprunk und äusserliche Effekte überwindet.

Guy Joostens Inszenierung unterstreicht diese Entschlackungstendenz, indem sie sich im funktionalen Bühnenaufbau von Alfons Flores ganz auf die spannungsgeladenen Figurenkonstellationen konzentriert. Dadurch tritt eine frappierende Nähe zu Giuseppe Verdis «Aida» zu Tage, die gleichwohl historisch schlüssig ist – verfolgte Verdi doch bereits in seinem 14 Jahre älteren Nil-Drama mit dem scharfen Gegensatz von privaten und öffentlich-repräsentativen Szenen ähnliche Strategien zur psychologischen Vertiefung der Grand Opéra.

Wie dort der Heerführer Radamès steht hier der Volksheld (und Tenor) Rodrigue zwischen zwei Frauen, die ihn lieben. Anders als Amneris bei Verdi versagt sich Massenets Infantin ihre Zuneigung aus Standesgründen, doch auch die Liebe der feurigen Chimène zu dem kastilischen Retter Spaniens steht unter keinem guten Stern, da sie in einen Konflikt zwischen ihren Vätern Gormas und Don Diègue hineingezogen wird. Als Rodrigue Gormas erschlägt – bei Joosten ist dies, abweichend vom Libretto, eher ein Totschlag im Affekt als Mord aus verletzter Ehre –, scheint es keine Zukunft mehr zu geben für die beiden. Doch unter dem Eindruck seines strahlenden Sieges über die Mauren überwindet Chimène ihren Hass: Sie reicht Rodrigue, der sich um ihretwillen heldenhaft ins Schwert stürzen will, die Hand.

Der Regie gelingt das Kunststück, diese im doppelten Sinne zeitgebundenen Vorgänge glaubwürdig und ohne aufgesetztes Pathos darzustellen – historisches oder allzu deutliches spanisches Kolorit ist dabei vermieden. Joosten besinnt sich vielmehr darauf, dass die Kathedrale von St. Gallen ein wichtiges Pilgerziel auf dem Weg nach Santiago de Compostela ist und macht den Kirchenbau zu einem zentralen Element seiner Inszenierung: Die imposante Fassade im Hintergrund der Bühne spiegelt nicht nur den Rahmenkonflikt zwischen Mauren und Christen wider, sondern auch die Gefühlslage der Protagonisten. Mit Hilfe der atemberaubenden Video-Projektionen von Franc Aleu, der regelmässig mit dem katalanischen Regieteam La Fura dels Baus zusammenarbeitet, erglüht das Gotteshaus, verschwindet hinter Gerüsten, beginnt zu brennen und stürzt schliesslich, um Rodrigue die Notwendigkeit seines Kampfes gegen die islamischen Eroberer vor Augen zu führen, spektakulär in sich zusammen.

Musikalische Klärung

Als wäre die Sache damit nicht klar, greift die Inszenierung noch tiefer in die Farbtöpfe und projiziert einen IS- oder Al-Kaida-Führer, der via «Breaking News» zum Heiligen Krieg aufruft. Zum Glück bleibt dies die einzige plumpe Aktualisierung, und die ansprechenden sängerischen Leistungen der Premierenbesetzung tragen zur überzeugenden Wirkung der Produktion bei. Namentlich Mary Elizabeth Williams als Chimène sowie Evelyn Pollock als Infantin überstrahlen das Ensemble; Stefano La Colla hat als Rodrigue anfangs mit Intonationsschwächen zu kämpfen, zeichnet dann aber ein gewinnendes Porträt des Helden. Nicht zuletzt die Chöre und das Sinfonieorchester St. Gallen agieren unter der Leitung von Modestas Pitrėnas so engagiert, dass zur finalen Versöhnung tatsächlich die letzten Gewitterwolken vom Himmel gefegt sind.

Nächste Aufführungen: 28. Juni; 1., 2., 6. und 8. Juli.