Was uns rühren darf

Die Ruhrtriennale zeigt im zweiten Jahr der Intendanz von Johan Simons dessen grandiose Neuinszenierung der Reform-Oper «Alceste» von Gluck und lässt ausserdem ein paar Ufos von Stockhausen landen.

Holger Noltze, Bochum
Drucken
Die Ruhrtriennale zeigt eine grandiose «Alceste» von Gluck. (Bild: Caroline Seidel / Keystone)

Die Ruhrtriennale zeigt eine grandiose «Alceste» von Gluck. (Bild: Caroline Seidel / Keystone)

Die Sache ist in wenigen Sätzen erzählt: Ein König liegt krank auf den Tod, nur ein Opfer könne ihn retten, sagt das Orakel. Das Äusserste: Jemand muss sein Leben für das des Königs Admetos geben. Alceste, die Königin, entschliesst sich zu diesem Opfer, nichts kann sie abbringen, die Verzweiflung des liebenden Mannes nicht, die Bestürzung des Volks nicht, nicht einmal der Gedanke an ihre Kinder. Doch der Mut zur unerhörten Tat verändert die Regel, die Götter sind nicht länger unerbittlich und geben das Paar wieder zusammen.

Was von diesem «lieto fine» aus gesehen eine freundlich-hoffnungsvoll leuchtende Geschichte ist, wurde von den Zeitgenossen Glucks und seines Librettisten Ranieri de' Calzabigi als «trist, grauenhaft, entsetzlich schwarz» kritisiert. Es traf jedenfalls in der italienischen Erstfassung (Wien 1767) nicht ganz den Optimismus der aufgeklärten Welt. Wohl aber trifft es die Grundstimmung unsrer Gegenwart.

Rückgewinnung von Rührung

«Musik für eine Zeit in Moll», sagt Johan Simons, Ruhrtriennale-Leiter im zweiten seiner drei Intendantenjahre. Er ist zugleich der Regisseur dieses Eröffnungsabends im weiten Dunkel der Bochumer Jahrhunderthalle. Das heisst, es beginnt hell, mit Saalbeleuchtung sogar, und René Jacobs lässt das fabelhafte Genter B'Rock-Ensemble Glucks Intrada geschwind durchpulsen, erst danach dunkelt sich das Bild langsam ein.

Leo de Nijs hat als (schwarz glänzende) Spielfläche ein riesiges L mit besonders langer Langseite in die Halle gebaut, das macht die Tiefe zur Breite und das Publikum zum Volk mit sehr verschiedener Sicht aufs verzweifelte Geschehen: einmal sehr nah dran, dann sehr weit weg.

Simons' Bewegungsregie spielt virtuos damit, die Sänger müssen etwas verstärkt werden, aber die heikle Klangregie gelingt, mit magischen Fernwirkungen, wenn Birgitte Christensen als Alceste ihr schwebendes Höhenpiano in die Weite des riesigen Raumes entlässt, wenn sich – am Ende des ersten Teils – in ihre Entschiedenheit Zweifel mischen und sie um etwas Aufschub bittet, um sich von den Kindern zu verabschieden.

Das rührt, und genau dies sollte und wollte es immer schon: uns rühren, mit dem klaren Dreiklang von Einfachheit, Wahrheit, Natürlichkeit. Doch so einerseits nah uns das grauenhaft Schwarze dieser Welt in Moll ist – was machen wir mit der Rührung? Gelingt sie noch? Sind wir nicht längst zu abgekühlt im Selbstschutz vor dem allfälligen Grauen, in dem, was der Politologe Herfried Münkler «mürrische Indifferenz» genannt hat?

Der Eröffnungsabend der Ruhrtriennale geriet zum zarten Denkbild: Was wäre denn dem unausweichlich Scheinenden entgegenzusetzen als der Verzicht? Gespielt wird ein einziges Seufzen, drei Stunden lang, denn hier wird jede Note Glucks gespielt. Im Seufzer liegen Trauer und Trost beieinander, und allzu leicht droht der Kitsch, wenn die Konzentration nachlässt. Eben dies geschieht nicht. Simons und Jacobs haben ausserordentliche Sänger-Darsteller zusammengebracht: Georg Nigl, mächtig und hysterisch als Oberpriester und Demagoge; Thomas Walker als Admeto, vielfarbig mit rauer Mittellage und sowohl weich wie strahlend in der Höhe; Kristina Hammarström mit Wärme und Ernst als Vertraute Ismene; schliesslich die – nur in der italienischen Fassung singenden – Kinder.

Sie bleiben am Ende allein, denn das «happy family ending» wurde gestrichen. Wenn die Staatsaktionen zu Ende sind, stehen sie, vergeblich auf die Eltern wartend, am Fenster, und das letzte schöne Bild zeigt, wie sie verloren durch das Riesendunkel der Halle rennen. Simons bricht das Stück nicht, nimmt die Grösse der klassischen Affekte ernst, auch die Fähigkeit des Publikums, das mitzudenken – und gewinnt die Kraft des Rührenden zurück durch Klugheit, Mass und Genauigkeit.

Für die Szene genügen dazu ein paar banale Plasticstühle; gelegentlich verliert einer die Fassung, verständlicherweise, dann eignen sie sich zum Herumwerfen. Wucht und Glaubwürdigkeit dieser «Alceste» aber entstehen, neben den Solisten, vor allem durch den vollkommen singenden und spielenden MusicAeterna-Chor aus Perm (das Ensemble von Teodor Currentzis); noch mehr durch Jacobs' atmendes Musizieren mit dem B'Rock-Orchester. Sanft küsst er die nur selten zu hörende italienische Wiener Ur-«Alceste» wach, macht das Grauen vor dem Tod sinnlich im fahlen Streicherflageolett, lässt die Musik vor Angst tremolieren, macht aus Accompagnato-Rezitativen Momente der Wahrheit. Wann gelang so sprechender Ausdruck bei so genauer Formbeachtung! Zur Continuo-Begleitung spielt ein Trio aus Hammerflügel, Cello und Harfe Zauberklänge. Man möchte, angerührt, alles glauben.

Die Ruhrtriennale will Raum schaffen für das, was anderswo kaum zu machen ist. Karlheinz Stockhausens «Carré» für vier Orchester und vier Chöre ist so ein Fall. Sie müssen um das Publikum herum postiert werden, gegen alle technischen Hindernisse, um den Traum zu realisieren, Musik körperlich und allumfassend zu erfahren. Auch für dieses Projekt des Unerhörten ist die Jahrhunderthalle in Bochum der Ort, nicht nur, weil sie Platz hat – die kathedralenhafte Architektur einer untergegangenen Industrie ist der perfekte Landeplatz für Stockhausens Musik-Ufos.

Zukunftsmusik

Bevor die Bochumer Symphoniker, das ChorWerk Ruhr und vier Dirigenten «Carré» von 1960 machtvoll und zugleich staunenswert flink in fliegenden Wechseln realisieren, gibt es Lautsprechermusik, Stockhausens «Gesang der Jünglinge im Feuerofen», sechzig Jahre alte Zukunftsmusik. Man lauscht in eine Vitrine der Musikgeschichte hinein – und es klingt überraschend frisch. So auch der Sound-Zirkus des «Carré», das manchmal wie eine akustische Fortsetzung der frühen Elektronik klingt, mit gurgelnden, fingerschnippenden Choristen, Tamtams, Harfe, Cimbalon und den Partitionen eines Symphonieorchesters.

Man darf das zweimal hören, und am besten von wechselnden Plätzen aus, um danach, Klang-euphorisiert, mit den elektronischen «Cosmic Pulses» aus Stockhausens Todesjahr 2007 noch eine Überlänge lang gequält zu werden. Die Originalität und differenzierte Leichtigkeit des Vorhergehenden entlarvte diese Geisterbahn für Ausserirdische als stures, lautes Drehen um sich selbst.