Die riesige Kohlenmischhalle in Marl als Bühne des Geschehens: "Die Fremden" nach dem Roman von Kamel Daoud.

Foto: JU/Ruhrtrienale

Schwer vorstellbar, dass diese Produktion später auch anderswo gezeigt werden soll. Denn am meisten beeindruckt der Aufführungsort: die riesige dunkle Kohlenmischhalle der Zeche Auguste Victoria in Marl und ihre monströse Mischmaschine: Man spürt, dass bis vor kurzem die Kumpels noch ihre Schicht gefahren haben. Wenn auch Bottrop 2018 endgültig schließt, wird es im Ruhrgebiet keine Steinkohleförderung mehr geben, und die vielen Zechen, die die Landschaft prägten, werden alle Ruinen- und Museen der Industriegeschichte geworden sein.

Wenn im Scheinwerferlicht der Kohlestaub auffunkelt, erscheint die gewaltige dunkle Halle auch wie ein sakraler Bau; darin relativ klein der Zuschauertribüne mit 1200 Plätzen und wie eine Insel ein kleines Orchester, das Asko-Schoenberg-Ensemble unter Reinbert de Leeuwmit. Mit ihm kann man – in der Mitte des Abends – eine Entdeckungsreise antreten: nach Bouchara, einem Meisterwerk der Moderne des 1985 ermordeten kanadischen Komponisten Claude Vivier von enormer Sogwirkung, vorgetragen in einer imaginären Sprache vom Sopran Katrien Baerts. Ein rätselhaftes Fremdsein: Bouchara ist eine uralte Stadt in Usbekistan, die bereits Marco Polo erwähnt.

Inszenierungen in Industrieruinen

Musiktheater nennt Johan Simons, seit 2015 Intendant der Ruhrtriennale, seine Inszenierungen in den Industrieruinen. Hatte er vergangenes Jahr in der Zeche Dinslaken eine Adaption von Pasolinis Accatone mit Musik von Bach geboten, so ist nun in der Zeche Marl – mit Musik von Vivier, Mauricio Kagel und György Ligeti – der Bestseller des algerischen Schriftstellers Kamel Daoud Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung (2013) der Bezugspunkt. Daoud verarbeitet darin die Kränkung, dass in Camus eurozentriertem Roman Der Fremde nur der Mörder im Mittelpunkt steht und einen Namen hat, während sein aus Willkür getötetes Opfer lediglich "Araber" genannt wird.

Daoud erzählt Camus' Geschichte aus der Perspektive des Bruders jenes Arabers neu. Für Theaterdialoge taugt der Roman nur bedingt, und so teilt Simons die Erzählung auf ein Schauspielerquintett auf, das mal kindlich trotzig jammernd (Benny Claessens), mal pastoral (Pierre Bokma), mal bestimmt anklagend (Elsie de Brauw) Teile des Romans vorträgt – auf Deutsch, aber bis auf Sandra Hüller alle mit starkem fremdländischem westeuropäischem Akzent. Vor allem aber erschließt das Schauspielerquintett durch lange Läufe die riesige Halle und macht den Raum durch Stürze, Tänzeln, Wälzen, Sich-Beschmieren und Beflecken zu einem meditativen Ort. Näher als Daouds journalistischem Roman scheint der Abend damit Camus' europäischer Antimetaphysik, seiner existenzialistischen Transzendenz nahezukommen.

Abgelenkt wird man durch die irritierenden Filme von Aernout Milk, von Videos über den algerischen Befreiungskrieg bis zur aktuellen Situation: riesige Bettenlager für Flüchtlinge. Diese werden von Europäern gespielt, während Betreuer und Polizisten offensichtlich fremdländischer Herkunft sind. Und die Kinder, die unter und über die Betten turnen? (Bernhard Doppler aus Marl, 4.9.2016)