Der Mann aus Nummer 37

Das Theater Basel eröffnet die Opernsaison mit Erich Wolfgang Korngolds Geniestreich «Die tote Stadt» – in einer exemplarischen Inszenierung von Simon Stone.

Christian Wildhagen, Basel
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Da stimmt etwas nicht in (und mit) dieser Wohnung: In der «Toten Stadt» geht es am Theater Basel drunter und drüber. (Bild: Sandra Then)

Da stimmt etwas nicht in (und mit) dieser Wohnung: In der «Toten Stadt» geht es am Theater Basel drunter und drüber. (Bild: Sandra Then)

Welche Macht sollen die Toten über uns Lebende haben? Die Frage scheint nicht unbedingt vorrangig für einen Komponisten Anfang zwanzig. Doch Erich Wolfgang Korngold, neben Mozart und Mendelssohn wohl das frühreifste Wunderkind der Musikgeschichte, schrieb über dieses Thema mit nicht einmal 23 Jahren eine Oper, die bei ihrer zeitgleichen Uraufführung in Hamburg und Köln 1920 zum glanzvollsten Bühnenerfolg der jungen Weimarer Republik avancierte.

Offenbar traf dieses Stück damals den Nerv einer Epoche, die sich, kaum den Schrecken des Ersten Weltkriegs entronnen, bereits im Um- und Aufbruch befand zu einer neuen Zeit: den goldenen zwanziger Jahren. Nach Korngolds doppelter Verfemung, erst unter dem Nationalsozialismus, nach 1945 dann unter der ästhetischen Doktrin der Nachkriegsavantgarde, die seine Filmmusik für Hollywood geisselte, ist «Die tote Stadt» seit der Jahrtausendwende vermehrt in die Spielpläne der Opernhäuser zurückgekehrt. Inzwischen weniger vom Zeitgeist getragen, eher als ein schillernder Gruss aus einer versunkenen Epoche, aber dank ihrer packenden Musik und ihrem ebenso packenden Plot hat sie noch immer das Potenzial zum Publikumsrenner. Jetzt ist auch das Theater Basel auf diesen Zug aufgesprungen, und bei der nahezu einhellig akklamierten Premiere zur Saisoneröffnung schien das Erfolgsrezept des wundersamen Stücks aufs Neue aufzugehen – allerdings auf eine etwas andere Art als üblich.

Wie starb Marie?

Der Regisseur Simon Stone, gerade für seine auch in Basel gezeigte Inszenierung des Ibsen-Dramas «John Gabriel Borkman» von Wien bis Berlin gefeiert, verzichtet bei seiner ersten Opernregie völlig auf das morbide Kolorit, das Korngolds Oper durch ihre Vorlage, Georges Rodenbachs Roman «Bruges-la-Morte», eingeschrieben ist. Brügge, die sprichwörtliche «Tote Stadt», erscheint bei Stone lediglich in Gestalt eines funktionalen weissen Bungalows (Bühne: Ralph Myers) mit der Hausnummer 37.

Paul, ein Witwer, wohnt hier schon länger nicht mehr; alle Möbel sind mit weissen Hussen überzogen, die wie Leichentücher anmuten – offenbar sind für Paul mit diesem Haus zu viele Erinnerungen an glücklichere Tage an der Seite seiner Frau verbunden. Es gibt darin sogar einen speziellen Raum, in dem er Hunderte von Fotografien und nicht zuletzt eine Haar-Reliquie der toten Marie in einem Sicherheitsschrank verschlossen hat. Dieser bei Rodenbach und Korngold zum Fetisch stilisierte blonde Zopf ist bei Stone die letzte Perücke einer Krebskranken. «Krankenhaus» steht vielsagend auf einem Karton im Erinnerungszimmer. Stone beantwortet damit, scheinbar beiläufig, eine entscheidende Frage, um die sich keine Interpretation der «Toten Stadt» herumdrücken darf, nämlich: wie und warum die über alles geliebte Marie eigentlich gestorben ist.

Der zum Fetisch stilisierte blonde Haarzopf Maries ist bei Simon Stone die letzte Perücke einer Krebskranken.

Neuere Inszenierungen deuten hier mit Bezug auf Schnitzlers stoffgleiche Novelle «Die Nächste» und unter dem Einfluss von Hitchcocks Film-Variante «Vertigo» oft einen vertuschten Mordfall an, der sich dann im Verlauf der Oper bei Maries täuschend ähnlicher Wiedergängerin Marietta auf offener Bühne wiederholen wird. Stone bleibt dagegen – überraschend für einen heutigen Schauspielregisseur – geradezu schulbuchmässig nah am ohnehin ausreichend vielschichtigen Handlungsgerüst des Librettos. Bei ihm ist die flatterhafte, atemberaubend promiske Tänzerin Marietta nur äusserlich als Wiedergängerin, charakterlich aber als krasses Gegenbild zu Marie gezeichnet, die laut Paul nichts Geringeres war als «eine Heilige».

Stone lässt folgerichtig die von Korngold und seinem Vater Julius (dem Wiener Nachfolger des Kritikerpapstes Eduard Hanslick) ins Operntextbuch eingefügte Traum-Klammer intakt, eine Art «Vorausblende» in der Sprache des Films, die uns Pauls allmähliche Ernüchterung über die «verderbte», «zuchtlose» Marietta und die daraus folgende Eskalation bis zum Mord als warnenden Albtraum erleben lässt. Gründlich kuriert durch diese Vision, sitzt Paul bei Stone am Ende in seiner weissen Bungalowküche, öffnet ein belgisches Bier und verbrennt Maries Reliquien im Papierkorb. Ob er seine Obsession von der Wiederkehr der Toten allerdings dauerhaft überwinden und in ein normales Leben jenseits der «Stadt des Todes» finden kann, bleibt offen.

Mahlerhafte Gleichzeitigkeiten

Der Rest dieses szenisch ungemein stimmigen Premierenabends ist solides Handwerk – texttreu im allerbesten, nämlich kreativ weiterdenkenden Sinne. Stone spielt dabei seine Erfahrungen im Filmgenre souverän aus und schafft mit den an den Wänden des Bungalows aufgehängten Plakaten berühmter Filme wie «Dirty Dancing» und Michelangelo Antonionis «Blow-up» sowie einigen nachgestellten Filmzitaten eine subtil ironisierende Kommentarebene. Pauls (Alb-)Traumvision und seine zunehmende Verwirrung werden durch einen Zerfall des Bungalows versinnbildlicht, dessen einzelne Zimmer immer sinnloser neben- und übereinander placiert werden und erst am Ende – bühnentechnisch noch etwas holprig – in die ursprüngliche Ordnung zurückfinden.

Bis zu diesem immerhin leise hoffnungsvollen Schluss liefern sich Rolf Romei als Paul und Helena Juntunen in der Doppelrolle von Marie und Marietta einen seelischen und körperlichen Showdown erster Güte: mit einer Genauigkeit in Mimik, Blick- und Gestenführung, die man so eher im Schauspiel erwartet. Die Kehrseite – und eine grundsätzliche Gefahr des neuen Basler Opernstils – ist eine ziemliche Unbekümmertheit im Umgang mit dem Notentext.

Für beide Sänger sind die extrem fordernden Rollen Grenzpartien; während Juntunen die damit verbundenen Schwierigkeiten geschickt kaschiert, muss Romei am Premierenabend – wohl auch aus Nervosität – zu oft Töne in exponierter Lage verkürzen oder nach unten transponieren. Problematischer ist die übermässige dynamische Reduktion des Orchesterklangs, die wegen der eher kleinen Stimmen der beiden Sänger nötig wird.

Erik Nielsen trimmt das Basler Sinfonieorchester bei seinem Einstand als neuer Musikdirektor des Theaters zudem ganz auf Transparenz. Das Spätromantisch-Süffige der Partitur tritt zurück, stattdessen nimmt Nielsen die zukunftsweisenden Momente ins Visier – etwa die suggestiven Cluster- und Instrumentaleffekte, die in Korngolds Filmmusiken nach 1934 wiederkehren werden. Oder die ebenfalls filmisch wirkenden Schnitte und Stil-Wechsel, die dazu führen, dass Ahnungen von Atonalität und Neuer Sachlichkeit (in den virtuos gestalteten Szenen von Mariettas Komödiantentruppe) in mahlerhafter Gleichzeitigkeit neben dem nostalgischen Schein der beiden Wunschkonzert-Evergreens «Glück, das mir verblieb» und «Mein Sehnen, mein Wähnen» stehen (Letzterer von Sebastian Wartig als Pierrot Fritz sehr innig gesungen).

Dies ist fraglos eine legitime und eigenständige Lesart; doch führt der bisweilen bis an die Grenze zur Brüchigkeit reduzierte Orchesterklang im Verbund mit den teilweise sehr langsamen Tempi dazu, dass der musikdramatische Erzählfluss ebenfalls brüchig wird. Musikalisch muss diese szenisch so eindringliche Produktion noch etwas reifen.