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Das Kasperltheater von heuteVon Joachim Lange / Fotos von Ludwig Olah
Hier singt man russisch, könnte draußen dran stehen. Die Oper Nürnberg eröffnet ihre Spielzeit mit Modest Mussorgskis Boris Godunow. Besondere Merkmale: Eine Garde von idiomatisch sicheren exzellenten Sängern und als Gast Regielegende Peter Konwitschny (71). Der erzählt die Geschichte vom Aufstieg und Untergang dieses Zaren nicht als ein hübsch ausgepinseltes Historienpanorama. Obwohl der eigentliche Schauplatz, der Moskauer Kreml, Bilder von Pracht und Geheimnis, gezückten Messern und einem über die Weite Russlands geschwungenem Zepter ganz von selbst aufsteigen lässt, geht es um den exemplarischen Spitzenpolitiker von heute. Politik als Kasperletheater
Was die Zuschauer auf der Bühne von Timo Dentler als erstes zu sehen kriegen, ist ein Kasperletheater im XL- samt einer roten (Brecht-) Gardine im Mini-Format. Für ein zuschauendes Volk, das (politisch) verkatert am Boden liegt. Die Handpuppen-Doubles des politischen Führungspersonals wissen genau, wie man die "Wahl" von Boris Godunow zum neuen Zaren inszeniert. Sie überschütten das Volk schubkarrenweise mit Münzen und Winkfähnchen, mischen ein paar Gewehrsalven unter den bestellten Jubel, und schon kann Boris mit der Zarenkrone herumstolzieren. Pimen wirkt hier eher wie ein Exsoldat und nicht wie ein Mönch
Wie eine dialektische Pointe zerstört dann aber das Jubel-Feuerwerk wie eine Granate dieses Jahrmarkts(puppen)theater. Das eingeknickte Gerüst hinter der zerstörten Politfassade liefert jetzt die imaginären Schauplätze. Zuerst für den einarmigen, aber kämpferischen Mönch Pimen (markant und auftrumpfend: Alexey Birkus), der seinem Eleven einredet, er sei eigentlich der rechtmäßige Zarewitsch und damit nicht nur Geschichte schreiben, sondern auch machen will. Wenn sich Grigorij (Tilmann Unger) auf den Weg nach Polen macht, um Truppen gegen Boris zu mobilisieren, dann sind die Reste der zerstörten Jahrmarktsbühne jener Grenzgasthof, in dem er seinen Verfolgern entkommt. Der Zar im goldenen Käfig und in der Krise
In der gespielten Urfassung von 1869 (ohne den Polen-Akt) richtet sich der Fokus auf Boris. Im sprichwörtlich goldenen Käfig. Die Wände seiner Gemächer sind mit Goldpailletten verhängt. Am Weltenglobus und mit jeder Menge Kriegsspielzeug trainiert der Zarennachwuchs für seinen Job. Hier wird Boris von seinem Gewissen heimgesucht - ob er den legitimen Zarewitsch ermorden ließ, wie Pimen behauptet, bleibt eine Option, die nie geklärt wird. Bei diesem sehr menschlichen Zaren mit Pelzmantel über der Unterwäsche bleiben der Selbstzweifel und sein Zusammenbruch in einer Dosierung, die er in der Öffentlichkeit gerade noch überspielen kann. Der bulgarische Bass Nicolai Karnolsky läuft dabei zur Boris-Hochform auf. Das Einkaufsparadies als Hüpfburg
Da Konwitschny nicht die Verkommenheit im historischen Russland, sondern exemplarisch den globalen Kapitalismus im Visier hat, beherrscht schließlich ein als knallbunte Hüpfburg aufgeblasener Einkaufswagen die Szene. Das Volk ist mittlerweile im Wohlstand verkommen. Eine vergoldete, gleichwohl mit den Politikern unzufriedene und frustrierte Konsumentenmasse. Ein Penner unter ihnen gibt den Gottesnarren, dem Boris resigniert seine Krone überlässt. Der überlebt das nicht. Der Zar mit dem plagenden Gewissen und den Selbstzweifeln aber, der kommt diesmal mit dem Leben davon. Er kriegt die Chance zum Ausstieg und darf im Freizeitlook (mit Sommerhütchen wie einst der Rentner Chrustschow) in den Orchestergraben, in die Musik entkommen. Konwitschnys Theater ist deftig, will etwas aussagen. Er setzt dabei auf das Charisma seiner Sängerdarsteller, auf handgemachtes Theater und auf die aktuellen Bilder, die bei jedem Zuschauer im Kopf entstehen. Damit trifft er ohne jede platte Politsatire in Schwarze. Markus Bosch trägt das mit dem Orchester zupackend mit. Das Schroffe der Urfassung macht er zur Tugend. Und die Garde der Sänger hält dem mehr als nur Stand. Nach der Premiere gab es Jubel für alle.
In Nürnberg ist eine fulminante Spielzeiteröffnung gelungen: Peter Konwitschny und Markus Bosch stemmen Mussorgskis Boris Godunow als exemplarisches Polittheater mit Hintersinn. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Inszenierung
Bühne und Kostüme
Choreinstudierung
Dramaturgie
Solisten
Boris Godunow
Xenia, seine Tochter
Feodor, sein Sohn
Xenias Amme
Fürst Schuiskij
Andrej Schtschelkalow
Pimen, ein Mönch
Grigorij
Missail
Warlaam
Eine Wirtin
Ein Blödsinniger (Gottesnarr)
Volkspolizist
Mitjucha
Dorfpolizist
Leibbojar
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