Gioachino Rossini legte mit Tancredi, seiner ersten Opera seria, 1813 nur wenige Wochen vor seinem 21. Geburtstag den Grundstein für einen unvergleichlichen Siegeszug durch die Theaterwelt. Nach der Uraufführung am Teatro La Fenice brach nicht nur in Venedig – wo die Gondoliere auf ihren Fahrten durch die Kanäle die Auftrittsarie des Titelhelden sangen – das Rossini-Fieber aus. Nördlich der Alpen fand diese Begeisterung für das jugendlich schwärmerische Melodramma eroico nur wenig Anklang; nach der deutschen Erstaufführung in München geriet es schon bald in Vergessenheit. Das Nationaltheater Mannheim nimmt dieses vernachlässigte Werk nun in einer eigens für das Haus am Goetheplatz erarbeiteten Fassung wieder in das Repertoire auf. Der Versuch einer Wiederbelebung von Rossinis Tancredi scheitert jedoch vor einem zur Staffage gewordenen Sängerensemble. Das Experiment am Menschen wird bedauerlicherweise zur musikalisch leeren Seelenmechanik.

Auf dem Grund einer quadratisch angelegten Erhebung wird in der Mitte des von Ralph Zeger eingerichteten Bühnenraumes ein kleiner Strauch in den Erdboden gepflanzt. Er markiert gleich einem in die Petrischale injizierten Keim den Beginn von Cordelia Däupers szenischem Experiment, in dem die Beständigkeit der Gefühle auf die Probe gestellt wird. In der Dramaturgie eines Labors entwirft sie die mittelalterliche Geschichte der Liebe zwischen Tancredi, einem aus dem sizilianischen Syrakus verbannten Ritter, und Amenaide. Im sich um 1005 ereignenden Kampf gegen den Sarazenen Solamiro schließt Amenaides Vater Argirio, den Filippo Adami mit metallisch klirrendem Tenor und scharfen Spitzentönen gab, ein Bündnis mit der verfeindeten Familie Orbazzano. Dessen Oberhaupt, das Sung Ha mit schlank geführtem Bass äußerst hölzern darstellte, verspricht er zur Festigung ihrer Allianz die eigene Tochter.

Die Kostüme von Sophie du Vinage versetzen die Protagonisten in die während der Entstehung des Werkes herrschenden Koalitionskriege. Als Argirios Tochter von dessen Vorhaben erfährt und hören muss, dass Tancredi bei seiner Rückkehr zu Tode verurteilt würde, beschließt sie zu dessen Schutz die väterliche Allianz durch eine Hochzeit mit Orbazzano zu bekräftigen. Eunju Kwon verlieh Amenaide mit ihrem hellen Sopran jugendliche Leichtigkeit; die strahlende Leuchtkraft, in der sie die natürlich wirkenden Koloraturen in der Liebeserklärung „Come dolce, all'alma mia“ anlegte, ließen im tragischen Verlauf der Handlung jedoch kaum dramatische Tiefe erkennen und wirkten oftmals allzu eindimensional.

Marie-Belle Sandis gestaltete die Titelpartie mit dunklem Timbre wenig virtuos. In ihrer Auftrittsarie ließ die Mezzosopranistin Substanz und Beweglichkeit in der Stimmführung vermissen; Tancredis „Di tanti palpiti“ drohte deshalb unter dem Klang des Orchesters beinahe unterzugehen. Als ein Brief, in dem Amenaide den Verbannten bittet, in die Heimat zurückzukehren, Syrakus zu erobern und sie zu heiraten, gefunden wird, kommt es zu einem todbringenden Missverständnis. Zu spät entscheidet sich Amenaides Vertraute Isaura, der Julia Faylenbogen mühevolle Tiefe verlieh, den Irrtum aufzuklären. Roggieros hoffnungsvolle Arie, die Ji Yoon mit strahlendem Sopran gab, versank wie das Wasser aus dessen blecherner Gießkanne im Nichts. Der Titelheld muss wie in der Vorlage des von Gaetano Rossi eingerichteten Librettos, einer gleichnamigen Tragödie des französischen Dramatiker Voltaires, tödlich verwundet erfahren, dass ihm Amenaide bis zuletzt treu war. Unter dem stillen Klang des Chores „Muore il forte, il vincitor“ stirbt er in den Armen seiner Geliebten.

Das relativ klein besetzte Orchester des Nationaltheaters versprühte an diesem Abend wenig Elan und gab sich unter der musikalischen Leitung von Rubén Dubrovsky sehr verhalten. Bis auf wenige Momente, in denen – wie in dem Duett „Lasciami: non t’ascolto“ – die sprudelnden Koloraturen und Kaskaden im Orchestergraben aufspritzten, fehlten die feinen Lyrismen und Zwischentöne, die musikalische Kraft von Rossinis voller melodischer Invention. Der Herrenchor, benannt nach der Rossiniinterpretin Isabella Colbran, überraschte hingegen mit einer starken und differenzierten Stimmführung.

Unter dem mikroskopischen Blick von Cordula Däupers Regie haben nicht nur die Gefühle von Amenaide und Tancredi keinen Bestand mehr. Alle Beziehungen scheinen sich aufzulösen. Ihre Versuchsanordnung in der sterilen Umgebung des offenen Bühnenraums und die oftmals zum Stillstand kommenden Szenenbilder wirkt gefühlsleer und erkaltet. Trotz dramaturgisch sinnreicher Einfälle wie Rückblenden versickert Rossinis romantischer Psychologismus wie der Regen zu Beginn des zweiten Aktes im Erdboden. Das im Hintergrund lodernde Feuer des Finales lässt an diesem Abend keinen Funken überspringen.

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