Die Liebe – eine Baustelle

Nach 35 Jahren hat die Scala die legendäre «Figaro»-Inszenierung von Giorgio Strehler durch eine neue des jungen englischen Regisseurs Frederic Wake-Walker ersetzt. Da hat sich einiges verändert.

Thomas Schacher, Mailand
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Wo sind die schönen Momente der Liebe geblieben? Diana Damrau als Gräfin. (Bild: PD)

Wo sind die schönen Momente der Liebe geblieben? Diana Damrau als Gräfin. (Bild: PD)

Wenn in Mailand das Orchester unter der Leitung von Franz Welser-Möst zur Ouvertüre von Mozarts Opera buffa «Le Nozze di Figaro» anhebt, befindet sich die riesige Bühne des Teatro alla Scala noch im Probezustand. Angeführt von Figaro beginnt eine Gruppe schwarz gekleideter Tänzerinnen die Kulissenelemente so umherzuschieben, dass allmählich das Bühnenbild des ersten Akts entsteht. Die rechteckigen Wände, die das Zimmer abgrenzen sollen, wollen freilich nicht so recht zusammenpassen – als ob ein Puzzle fehlerhaft zusammengesetzt worden wäre. In diesem Interieur des Ausstatters Antony McDonald richten nun Figaro, der Kammerdiener des Grafen Almaviva, und Susanna, die Zofe der Gräfin, ihren Raum ein. Ihrer Heirat steht einzig noch die Einwilligung des Grafen im Weg. Doch dieser hat seine eigenen Pläne: Der Frauenheld hat dem Brautpaar ein prekäres Zimmer unmittelbar neben seinen Gemächern angeboten, weil er die Zofe verführen will. Zwar hat er auf Drängen der Gräfin kürzlich auf sein «Jus primae noctis» verzichtet, aber schon jetzt reut ihn der Entschluss.

Raffinierter Ansatz

Der junge britische Regisseur Frederic Wake-Walker fokussiert die Handlung des Stücks auf die Instabilität der Liebe. Oft wird «Figaro» als Sozialdrama – Adel gegen Bürgertum – oder als Geschlechterkampf – Männer gegen Frauen – interpretiert. Wake-Walker dagegen legt den Finger auf die Zerbrechlichkeit der Liebesbeziehungen und zeigt die Liebe in einer ganz wörtlichen Bedeutung als Baustelle. Deutlich wird dies nicht zuletzt in den Bühnenbildern der gräflichen Sphäre.

Im zweiten Akt, in dem die Gräfin und Susanna ihre Intrige gegen den partout zum Fremdgehen entschlossenen Grafen spinnen, sehen wir das Schlafgemach als prächtig eingerichtetes Zimmer mit luxuriösem Doppelbett. Zu Beginn des dritten Akts demontieren die schwarz verhüllten Tänzerinnen aus der Ouvertüre die trügerische Scheinwelt. Auf Baugerüsten stehend, übermalen sie die schönen Bilder mit weisser Farbe. Im vierten Akt, wo die Verwirrungen am grössten sind, dominieren die Farben Weiss und Schwarz. Hier zeigt sich ein Hauptunterschied zur alten Strehler-Inszenierung: Bewegte sich diese in einer herausgeputzten Rokoko-Welt, so führen uns Wake-Walker und McDonald aus einer anfänglich distanziert historischen Welt allmählich in die Gegenwart.

Das ist ein raffinierter und sehr innovativer Ansatz. Mozarts Figuren werden allmählich aus ihren (Kleider)-Hüllen herausgeschält und mutieren zu Menschen von heute, zu Liebenden mit den Problemen des 21. Jahrhunderts. Auch musikalisch lohnt die neue «Figaro»-Produktion eine Reise nach Mailand. Dass Franz Welser-Möst zum ersten Mal überhaupt an die Scala eingeladen wurde, kann man fast nicht glauben.

Zu verdanken ist es wohl dem Scala-Intendanten Alexander Pereira, der Welser-Möst aus gemeinsamen Zürcher Zeiten kennt. Schon in der Ouvertüre zeigt der Dirigent, dass er klanglich einem Mozart-Bild von heute verpflichtet ist. Nicht, dass das Orchestra del Teatro alla Scala zu einem Originalklangkörper mutiert wäre. Aber es herrschen wohltuende Frische der Gestaltung, klare Artikulation und ein erfreulicher Reichtum an Klangfarben. Die Überspanntheit, die etwa Teodor Currentzis in seiner «Figaro»-Einspielung an den Tag legt, ist Welser-Möst und dem Scala-Orchester fremd. Die dramatischen Spannungen wachsen hier immer wieder aus der Ruhe heraus.

Was für eine Innigkeit herrscht beispielsweise bei der Arie «Dove sono i bei momenti» der Gräfin zu Beginn des dritten Aufzugs. Und was für ein szenisches und musikalisches Spektakel dann am Ende dieses Akts, wenn die Doppelhochzeit von Figaro-Susanna und Bartolo-Marcellina völlig überdreht gefeiert wird. Diana Damrau begeistert als eine stimmlich sensationelle und schauspielerisch reife Gräfin. Sie ist es, die durch ihre Verkleidungsintrige die Liebe ihres Mannes wieder zurückgewinnt.

Der Graf Almaviva von Carlo Álvarez erscheint in dieser Inszenierung nicht einfach als lächerlicher Frauenheld, sondern, etwa in seiner Arie «Vedrò, mentr'io sospiro» zunehmend als ein Mann mit ernstzunehmenden Nöten. Golda Schultz, die beim Zürcher «Figaro» die Gräfin gesungen hat, debütiert hier als Susanna, eine Rolle, die ihr wegen des komödiantischen Charakters noch besser liegt. Als liebenswerter Sonnyboy und strahlender Bariton erscheint der Titelheld selbst in der Interpretation von Markus Werba.

Verwirrung der Gefühle

Eine Schlüsselfigur in dieser Inszenierung stellt die Hosenrolle des Cherubino dar, die von der jungen Französin Marianne Crebassa mit umwerfender Komik verkörpert wird. Als pubertierender Jüngling mit ausgesprochen androgynem Aussehen bringt er nicht nur die lebenslustige Susanna, sondern auch die standhafte Gräfin gefährlich in Bedrängnis. Und in der finalen Gartenszene herrscht die totale Verwirrung, wenn der Graf sich an die vermeintliche Susanna heranmacht (die in Wirklichkeit die Gräfin ist), unter ihren Rock schleicht und dabei aus Versehen Cherubino küsst.

Als buffoneske Gegenwelt zur Haupthandlung ist das Trio von Bartolo (Andrea Concetti), Marcellina (Anna Maria Chiuri) und Basilio (Kresimir Spicer) charakterisiert. Wenn Marcellina, ebenfalls auf eine Ehe mit Figaro hoffend, plötzlich als seine Mutter erscheint und den heimlich Geliebten als Sohn in die Arme nimmt, hat das eine urkomische Wirkung. Aber auch so etwas findet seinen Platz auf der ewigen Baustelle.