Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Thilo Beu

Aktuelle Aufführungen

Psychopathologischer Belcanto

LUCIA DI LAMMERMOOR
(Gaetano Donizetti)

Besuch am
2. November 2016
(Premiere am 30. Oktober 2016)

 

 

Oper Bonn

Unter einem seltenen, weil außermusikalischen Aspekt ist die neue Bonner Lucia di Lammermoor eine Preziose. Ausgangspunkt ist die Synergie zwischen dem Theater Bonn und der English National Opera. Da die Werkstätten des Hauses in London nicht das übliche Leistungsvermögen der Theater von Rang aufweisen, ist die dortige Intendanz seit geraumer Zeit an entsprechenden Kooperationspartnern interessiert. Beispielsweise an der Oper in der Bundesstadt, die laut Generalintendant Bernhard Helmich über Werkstätten verfügt, „die auf sehr hohem internationalen Niveau arbeiten“. Das Ergebnis dieser Kooperation ist der Austausch von Produktionen, die sich die Opernhäuser – jeweils für sich betrachtet – nicht oder nicht ohne weiteres leisten könnten. So jetzt also in Bonn die Realisierung von Donizettis 1835 für Neapel komponierter Opera seria auf ein Libretto von Salvatore Cammarano. Und so erklärt es sich, dass die Lucia knapp ein Jahrzehnt nach der letzten Inszenierung bereits wieder auf dem Spielplan des Theaters Bonn erscheint.

In Donizettis Dreiakter steht Lucia Ashton im Mittelpunkt, deren Sehnsüchte und Träume wie bei Bellinis I Capuleti e i Montecchi zwischen den scharfen Kanten der Staatsräson und des politischen Machterhalts zerrieben werden. Über David Aldens Inszenierung des Melodrams lässt sich auf Grundlage der Bonner Aufführung praktisch nichts Neues sagen. Wandert doch die Regiearbeit des mit prononcierten Opern-Inszenierungen bekannt gewordenen US-Amerikaners mehr oder weniger unverändert durch diverse Musiktheater. Alden legt seinem Regiekonzept eine Idee zugrunde, die in der Handlung nach dem zu seiner Zeit äußerst populären Schauerroman von Walter Scott förmlich zum Greifen nahe angelegt ist. Er verlegt den bei Scott im Schottland der frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der Konflikte zwischen Katholiken und Protestanten spielenden Stoff in die schottische Gesellschaft während der Regentschaft der Königin Viktoria.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Da für Alden dieses „düstere romantische Märchen mit schauerhaften Elementen wie Geistern und inneren Dämonen“ unverkennbar pathologische Züge aufweist, lässt er die Fehde der Familien Ashton und Ravenswood sich unter dem Brennglas einer Nervenheilanstalt entwickeln. Sie wird vom Bühnenbildner Charles Edwards zum Glück nur sparsam angedeutet, so durch Gitterbetten mit installierten Fesseln zur Fixierung von Patienten. Bei genauerem Betrachten kristallisiert sich aus den leicht verfallenden Mauern und Wänden eine in die hintere Raumbegrenzung eingepasste Bühne heraus. Auf deren Brettern führen die Patienten offenbar das Spiel auf, das sie auch live erleben. Im Wahnsinnsfinale wankt hier Lucia im blutgefleckten weißen Gewand mit dem Dolch in der Hand nach der Tötung ihres Ehemannes Arturo in das von Schrecken gezeichnete Publikum. Bei Alden die Insassen einer Anstalt, die ja ohnehin schon ein Leben voller Angst und Grauen führen. Ein Kuriosum das Ganze, aber auch ein Anstoß, über die schönen Gräuel von damals neu nachzudenken, die den Kolportagen Scotts eine große Leserschaft bescherten.

Foto © Thilo Beu

So eng und begrenzt im Viktorianischen Zeitalter die vor allem religiös determinierten sozialen Normen verstanden werden, so sehr der Umgang von Männern und Frauen noch von offener Prüderie und versteckter Aggression geprägt ist, so wenig eignet sich Aldens Regieprojektion auf die Länge des ganzen Stücks hin. So bedingt, taugt sie als Kontext zu Donizettis musikalischer Lieblingslandschaft, der terra tragica. Gewiss, anfänglich mutet die Idee der verrückten Protagonisten überzeugend an. Lucia erscheint zu Beginn wie halb von Psychopharmaka sediert. Brigitte Reiffenstuel besorgt die Kostüme und lässt Lucia in einem Biedermeier-Kleid mit weitschwingendem Reifrock auftreten, in dem sie agiert wie eine Spielzeug-Puppe, an Olympia erinnernd, den Automaten in Hoffmanns Erzählungen. Ihr Bruder Enrico, ein Typ ohne Saft und Kraft, erlaubt sich eine inzestuöse Geste gegenüber Lucia. Diese aber fällt äußerst knapp aus, weil sie wie so vieles in den vornehmen Familien damals rasch unter den Teppich geschoben werden muss. Ständig agieren zudem die Ashtons und Ravenswoods auf Knien rutschend, wie physisch und psychisch zerbrochene Wesen, die das Irrenhaus um die Reste von Identität und Würde zu bringen scheint.

Jede Aufführung von Lucia di Lammermoor steht und fällt mit der Besetzung der Titelrolle. Eine für jeden Sopran extrem anspruchsvolle, um nicht zu sagen mörderische Partie zwischen dramatischem Pathos und koloraturensicherer Virtuosität. Julia Novikova erfüllt bei ihrem Rollendebüt die Herausforderung dieser Partie, die im heutigen Interpretationsverständnis überwiegend mit dramatischer Verve zu meistern ist, ganz ausgezeichnet. Die Sängerin, spätestens seit ihrem Durchbruch als Königin der Nacht an der Wiener Staatsoper 2009  erfolgreich, bringt mit ihrer theaterwirksamen, leicht anämischen Erscheinung beste Voraussetzungen für die Fragilität der Lucia mit. Höhensicher in jeder Lage, schafft sie es insbesondere im Pianissimo durch ihre berührende Ausstrahlung, das Auditorium in ihren Bann zu schlagen, vom befreiten Husten einzelner, leider zum falschen Zeitpunkt, einmal abgesehen. Doch reicht ihre Kunst noch weiter. Auf einem famosen technischen Niveau winden sich ihre grandiosen Koloraturen zu einem eigenen Kunstwerk der Raffinesse. Insbesondere im Sopran-Highlight der Oper, der so genannten Wahnsinnsszene, die in Wahrheit ein Ausdruck der extremen Entäußerung ist, scheint die junge Sängerin im Gegensatz zur Figur der Rolle ganz bei sich. Untermalt und unterstützt wird dieser Eindruck von einer an Stelle der obligaten Flöte eingesetzten Glasharmonika, die den Abschied der Lucia aus jeglicher Realität ins Sphärenhafte hebt. An ihrer Seite agiert, um bei den weiblichen Rollen zu bleiben, Susanne Blattert als Alisa, Lucias Vertraute, mit warmer Mezzo-Stimme rollengerecht.

Immer noch gilt die Lucia vielen als Bravourstück für Soprane, durchaus verständlich dank der exemplarischen Interpretationen von der Moffo über die Callas, Sutherland bis hin zu Gruberova. Tatsächlich ist die Oper nicht minder auch ein Prunkstück für Belcanto-Tenöre, allen voran die Partie des Edgardo, in der musikalischen Ausgestaltung mit ihren heroischen wie lyrischen Anteilen der Lucia fast ebenbürtig. Leider lässt Tenor Felipe Rojas Velozo die Nuancen der Partie fast vollständig vermissen. Gewandet in Lederwams und Kilt, bewegt er sich mit kraftvollem Organ immer als Draufgänger und Rebell, nicht aber als verinnerlichter Liebhaber. Im Superlativ unter den drei Duetten, die Donizetti der Lucia und den Männern ihrer Entourage auf die Stimmbänder geschrieben hat, in Ah! Verranno a te sull´aure, macht sich das von ihm bevorzugte eindimensionale Forcieren als Beeinträchtigung des Belcanto-Glanzes deutlich bemerkbar.

Auch Tenor Christian Georg als Arturo und Bariton Ivan Krutikov, der Lucias Bruder Enrico gibt, erreichen nicht annähernd die vokalen Standards, mit denen Novikova brilliert. Hingegen erfüllen Martin Tzonev als Raimondo mit seinem voluminösen, etwas unruhigen Bass und Johannes Mertes mit der kleinen Tenorpartie des Normanno ihre Aufgaben rollengerecht. Einmal mehr wartet der prächtig von Marco Medved einstudierte Chor mit einer überzeugenden Leistung auf, zumal er vom Komponisten auch generös bedacht ist.

Das Beethoven-Orchester Bonn ist mit Vehemenz und Leidenschaft bei der Sache, kommt aber in den perlenden Belcanto-Passagen, die ein Verschmelzen mit den Stimmvirtuosen verlangen, oft zu heftig und laut einher. Sein musikalischer Leiter Jacques Lacombe scheint es nicht in erster Linie darauf angelegt zu haben, die Musiker auf die Belange und Sensibilitäten der Sänger auszurichten. Eine erfreuliche Ausnahme ist hier das grandiose Sextett im zweiten Akt, in dem Lacombe das Orchester auf das Podest der vokalen und instrumentalen Balance zu führen versteht.

Belcanto-Kunst hin, vokale Feinheiten her – die Wucht der Musik Donizettis reißt das Publikum nach der letzten Ariensilbe, die übrigens Edgardo gehört und nicht Lucia, zu großem Beifall hin und später dann auch noch von seinen Sitzen. Das Theater Bonn hat dank der Fähigkeiten seiner Werkstätten einer schottischen Edelfrau eine Bühne bereitet, die den Besuch lohnt. Gelegenheiten dazu gibt es noch bis in den Januar hinein.

Ralf Siepmann