Ein Meer aus Kerzen, dazu das schwelgerische Vorspiel zum vierten Akt:dieser Moment in Ben Baurs Inszenierung von Charles Gounods Roméo et Juliette ist wahrlich ganz großes Kino. In Downton Abbey-Optik getaucht versprühen Bühne und Kostüme schlichte Eleganz, in der trotz großem Personenaufgebot nichts vom zentralen Liebespaar abzulenken vermag. Für die wohl berühmtesten Liebenden der Literaturgeschichte hat die Oper Graz mit Sophia Brommer und Kyungho Kim zwei ideale Interpreten aufzubieten. Optisch und stimmlich harmonierten die beiden ideal und auch in ihrer darstellerischen Kompromisslosigkeit standen sie sich in nichts nach - beide beschränkten sich nicht auf Standardgesten, sondern ließen sich völlig auf die psychologische und mitunter stark reduzierte Personenregie des Regisseurs ein.

Voll Verve gestaltete Brommer schon das „Je veux vivre“ mit sich federleicht aufschwingenden Koloraturen und vollzog im Anschluss eine beeindruckende Wandlung vom lebensfrohen, jungen Mädchen hin zur entschlossen in den Tod Gehenden. Statt perlender Leichtigkeit verströmte ihre karamellig timbrierte Stimme mehr und mehr Dramatik; dazu kamen herrliche Phrasierungen und eine enorm fein schattierte Dynamik in allen Lagen. Ebenso differenziert und vielschichtig präsentierte sich Kyungho Kims Roméo.

Der Tenor verfügt über ein Timbre, das an von der Sonne gewärmtes Teakholz erinnert und legte eine große Bandbreite an Emotionen in seine Interpretation. Waren Roméo und seine Juliette schon jeder für sich betrachtet sehr gut, waren sie in den gemeinsamen Duetten eine regelrechte Wucht. Die Stimmen verschmolzen zu einem berückenden Klang und rührten das Publikum zu Tränen - und wer nicht ohnehin schon bei „Va, je t'ai pardonné“ nach einem Taschentuch gegriffen hat, tat dies spätestens in der Sterbeszene. Ohne große, opernhafte Gesten oder aufgesetzte Dramatik wurde man hier vor schwarzem Hintergrund auf beinahe leerer Bühne Zeuge des Verlöschens zweier Seelen.

Rund um das dominierende Paar waren die kleineren Rollen durchwegs gut besetzt. Peter Kellner verlieh Bruder Laurent mit seinem üppigen Bass Wärme und Güte und gab auch darstellerisch einen glaubwürdigen Mann Gottes. Als Roméos Vertrauter Mercutio durfte sich Dariusz Perczak mit dem (von Taylan Reinhard herrlich schmierig und unsympathisch gezeichneten) Tybalt nicht nur einen flott choreographierten Bühnenkampf liefern, sondern auch seine Stimme klug phrasiert strömen lassen. Von der Regie von der Hosenrolle zum Dienstmädchen umfunktioniert wurde der Stéphano, der beziehungsweise die von Anna Brull mit koketten Spitzentönen und schönen Bögen interpretiert wurde. Der einzige, der angesichts des sehr hohen Niveaus am Premierenabend nicht zu hundert Prozent mithalten konnte, war Markus Butters Graf Capulet. Stellenweise wirkte er einen Hauch zu angestrengt, sein trockenes Timbre war hingegen für den sehr ehrwürdig angelegten älteren Grafen durchaus rollenadäquat. Eine Sternstunde bot der Chor der Grazer Oper. Ob melancholisch erzählter Prolog oder die feierwütige Hofgesellschaft, den Damen und Herren des Chors gelang wirklich alles in makelloser Abstimmung und mit himmlischem Gesamtklang. 

Hervorragend funktionierte auch die Auslegung der Partitur durch Robin Engelen am Pult des Grazer Philharmonischen Orchesters. Sein Motto schien zu lauten „Mut zum Gefühl“ und so animierte er die Musikerinnen zu elegischen Gefühlswogen und einer zutiefst melancholischen Grundstimmung. Besonders die schluchzenden Celli und klagenden Holzbläser bohrten sich dabei ihren Weg direkt ins Herz. Engelen schien auch mit den Sängern regelrecht mitzuatmen, wodurch die Balance zwischen Bühne und Orchestergraben zu jedem Zeitpunkt ideal war. 

In das musikalisch stimmige Gesamtbild fügte sich auch die Regie nahtlos ein. Ben Baur inszenierte zu keinem Zeitpunkt gegen die Musik, sondern fand eine schlichte aber wirkungsvolle Erzählsprache. In einer Art Innenhof zu Beginn des 20. Jahrhunderts siedelte er die Handlung an und erweiterte den Familienkonflikt noch um den Aspekt des Ständekonflikts, da Roméo aus der Dienerschaft zu stammen scheint. Das Liebespaar verdoppelte der Regisseur in einigen Szenen durch Tänzer und er nutzte auch das Ballett als effektvolles Stilmittel, um die geplante Hochzeit von Juliette und Paris zu einer Horrorvision werden zu lassen, bevor sie schließlich vermeintlich tot zusammenbricht. Insgesamt bestach der Abend durch wirkungsvolle Bilder, die ohne szenische Überfrachtung oder Provokationen die Handlung illustrierten.

Die zeitlose Geschichte einer unmöglichen Liebe, Musik der großen Gefühle und zwei grandiose Sänger in den Titelrollen: Die Grazer Produktion von Roméo et Juliette ist ein Pflichttermin für alle Romantiker und solche, die es werden wollen!

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