Die Crux mit der kritischen Haltung

Zum Saisonauftakt in München realisiert das Gärtnerplatz-Theater die Uraufführung von Johanna Doderers «Liliom». Die Bayerische Staatsoper kontert mit einer Donizetti-Premiere. Wer hat die Nase vorn?

Marco Frei, München
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Irgendwie sieht es anders aus, wenn einem die Welt zu Füssen liegt: Elīna Garanča als Léonor in «La Favorite». (Bild: Wilfried Hösl)

Irgendwie sieht es anders aus, wenn einem die Welt zu Füssen liegt: Elīna Garanča als Léonor in «La Favorite». (Bild: Wilfried Hösl)

Die Zeiten sind vorbei, als das Gärtnerplatztheater in München eine Miniatur-Version der benachbarten Bayerischen Staatsoper war. Seit Josef E. Köpplinger 2012 das Ruder übernommen hat, wurde aus dem Haus eine Art erweiterte Opéra comique. Der Österreicher setzt auf einen gleichberechtigten Genre-Mix aus Oper, Operette und Musical sowie Spiel- und Rockoper – um lächelnd etwas Ernstes zu erzählen. Eine kluge Erweiterung des Angebots in München.

Komischer Genre-Mix

Zuletzt gelang Köpplinger 2013 im Opernbereich ein besonderer Coup, mit der Uraufführung von Friedrich Cerhas «Onkel Präsident». Schon dieses Werk reflektierte eine Vorlage von Ferenc Molnár – jetzt realisierte Köpplinger als Librettist und Regisseur zusammen mit der Komponistin Johanna Doderer die Oper «Liliom» nach Molnárs gleichnamigem Schauspiel von 1909. Diese Vorlage hatte Köpplinger vor zehn Jahren auch einmal in St. Gallen inszeniert.

In der Vergangenheit wollten einige Komponisten diese «Budapester Vorstadt-Legende» vertonen, sie alle bekamen eine Abfuhr – darunter sogar Giacomo Puccini. Zwar genehmigte Molnár Verfilmungen und die Musical-Fassung «Carousel» von 1945; aber keine Oper. Nach Molnárs Tod 1952 wachten die Rechtsnachfolger strictement über «Liliom». Nur John Neumeier durfte den Stoff 2011 in Hamburg als Ballett vertanzen. Dass jetzt Köpplinger den Zuschlag bekam für die erste «Liliom»-Oper, ist eine kleine Sensation.

Doch obwohl die Österreicherin Doderer ein feines Gespür besitzt für das musiktheatralische Erzählen, bleibt die Uraufführung matt. Schon vier grosse Opern hat Doderer geschaffen, zuletzt 2010 für Erfurt «Der leuchtende Fluss». Doch Molnárs Stück hat einige Tücken, und das beginnt schon mit der Handlung. Alles dreht sich um den feschen Jahrmarkt-Schreier Liliom und die eifersüchtige Karussell-Besitzerin Muskat, zwei Hauptpartien, die Doderer für Daniel Prohaska und Angelika Kirchschlager massgeschneidert hat.

Liliom verliebt sich in das Dienstmädchen Julie (Camille Schnoor), für sie gibt er seine Stellung bei Muskat auf. Als sie ein Kind von ihm erwartet, lässt er sich zu einem Raubüberfall verleiten, um seine künftige Familie ernähren zu können. Es trifft einen jüdischen Fabrik-Kassierer, der sich jedoch mit einem Revolver wehrt. Um der Verhaftung zu entgehen, ersticht sich Liliom. Zwei «Polizisten Gottes» schleppen ihn daraufhin vors himmlische Selbstmörder-Gericht: Nach 16 Jahren Busse im «rosaroten Fegefeuer» darf Liliom kurz auf die Erde zurück, um seine Tochter Luise (Katerina Friedland) zu sehen.

Zu dieser Geschichte entwirft Doderer eine Musik, die sich bemerkenswert tonal gibt. Abgesehen von einigen clusterhaften Stimmführungen im Chor überwiegt eine Über-Romantik. Das passt sowohl zum k. u. k. Kolorit wie auch zu Molnárs Hang zum Kitsch. Ein kräftiger Schuss Walzerseligkeit rundet das Ganze ab, doch was weder Doderers Musik noch Köpplingers Inszenierung einfangen, ist die Mehrschichtigkeit. Bei Molnár liegen Tragik und Komik dicht beieinander, und ähnlich wie im «Wozzeck» blicken die Figuren stets tief in den sozialen Abgrund.

Doderer und Köpplinger hingegen beziehen keine Stellung, entwickeln keinerlei Empathie, um zugleich scharfe Kontraste und Brüche zu vermeiden. Für eine hintergründige Groteske, wie sie Molnár vorgeschwebt hat, ist dies zu eindimensional. Die recht spartanische Szene wirkt ähnlich unterkühlt wie die Musik, weshalb sich die Solisten in Darstellung und Gesang kaum entfalten können. Dafür aber verlebendigt das Gärtnerplatz-Orchester unter Michael Brandstätter die durchaus kunstvolle Instrumentation stilgerecht – eine insgesamt sinfonische Besetzung, auch in den klassischen Stimmfächern.

Nachholbedarf

Dagegen hatten bei der Premiere von Gaetano Donizettis «La Favorite» an der Bayerischen Staatsoper sowohl der Dirigent Karel Mark Chichon als auch die Solisten Probleme, einen originären Belcanto herauszuarbeiten. Chichon liess das Bayerische Staatsorchester irritierend undifferenziert und vordergründig effektbetont aufspielen, in teilweise behäbigen Tempi. Die Folgen für den Gesang sind fatal, vor allem für die Titelpartie der Léonor. Zwar ist die Mätresse des kastilischen Königs Alphonse mit Elina Garanca prominent besetzt; die stimmungsvollen Wechsel zwischen dem Lyrischen und dem Dramatischen aber kommen zu wenig zur Geltung. Selbst Matthew Polenzani muss als Zisterzienser-Novize Fernand – und Geliebter von Léonor – mit seinem agil-schlanken Tenor wiederholt gegen das Orchester ankämpfen. Eine Spur von echtem Belcanto gelingt einzig Elsa Benoit als Inès, der Vertrauten Léonors.

Der Mangel an gestalterischer Entfaltung setzt sich in der Regie von Amélie Niermeyer fort. Sie macht aus dem Drama ein Kammerspiel, in dem allerlei religiöse Symbole ausgestellt werden – dekorative Exponate. Unaufhörlich bewegen sich Wände, um die Bühne zu weiten oder einzuengen. Sonst passiert wenig, obwohl man sich gerade von einer Frau eine starke Deutung der Geschichte erhofft hatte. Immerhin gerät hier Léonor ins Getriebe weltlicher und geistlicher Machtgefüge, von Männern gemacht und beherrscht.

Wieder einmal zeigt sich: Es reicht eben nicht aus, auf bekannte Stars zu setzen. Auch der Inhalt muss stimmen, und der macht sich am Münchner Nationaltheater häufig rar – ganz zu schweigen von einer originären, auch stilistisch reflektierten Italianità. Längst wird eifrig über die Nachfolge des scheidenden Generalmusikdirektors Kirill Petrenko ab 2021 diskutiert; eine Lokalzeitung plädierte bereits für Antonio Pappano, den Musikdirektor des Londoner Royal Opera House. Ein Dirigent wie Pappano wäre für München in der Tat optimal, weil er als Interpret ein breites Repertoire mit jeweils entsprechend differenzierter Herangehensweise pflegt – von Klassik und Belcanto bis zur Moderne.