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Bühne und Konzert Staatsoper Hamburg

Die kranke Hingezogenheit des Opfers zum Peiniger

Freier Feuilletonmitarbeiter
Senza Sangue/Herzog Blaubarts Burg Péter Eötvös, Béla Bartók Inszenierung: Dmitri Tcherniakov Copyright: Monika Rittershaus Senza Sangue/Herzog Blaubarts Burg Péter Eötvös, Béla Bartók Inszenierung: Dmitri Tcherniakov Copyright: Monika Rittershaus
Ist der Raum überhaupt real? Szene aus "Herzog Blaubarts Burg" mit Claudia Mahnke und Bálint Szabó
Quelle: Monika Rittershaus
Béla Bártok hat mit „Herzog Blaubarts Burg“ eine wunderbare Rätseloper geschrieben. Das Problem ist nur: Sie ist zu kurz. Die Hamburger Staatsoper hat sie nun mit Peter Eötvös’ „Senza Sangue“ kombiniert.

Große Oper, großer Regisseur, großes Ego. So lautet der Premierennormalfall. Ist der Spielplatz vermessen, dann kann losgelegt werden, dann wird dekonstruiert und konzipiert. Die Partitur ist zwar (noch) sakrosankt, aber das Libretto, Schauplätze, Zeit, Personenkonstellationen, das alles ist eine Frage der Inszenierung. Was aber macht der Regisseur, wenn es eher klein und bescheiden zugeht? Wenn er sich mit zwei mal zwei singenden Personen begnügen muss, mit wenig spektakulären Schauplätzen und nur 105 Minuten Spieldauer?

Dmitri Tcherniakov, einer der derzeit gefragtesten Opernregisseure, in der Regel auch sein eigener Bühnenbildner und gerne mit Massen zugange, hat sich für genau diese Herausforderung entschieden. Und sie mit rigorosem Minimalismus ohne viele Schauwerte gekontert. Béla Bártoks zeitlos parabelhafte Ehegeschichte, Paarhölle, Rätselmärchen vom Blaubart und seinen vier Gattinnen ist eigentlich nur die archaische Situation des Zusammentreffens eines Mannes mit einer Frau.

Und genau diese hat der Komponist Peter Eötvös nun, weil „Blaubarts Burg“ mit 55 Minuten Spieldauer nicht abendfüllend ist, mit einem eigenen Stück noch gedoppelt, ergänzt, konkretisiert: mit seinem Musiktheaterstück „Senza Sangue“, das Eötvos als deutsche szenische Erstaufführung an der Hamburgischen Staatsoper selbst dirigert. „Senza Sangue“ basiert auf einem Text von Alessandro Baricco: Eine Frau trifft einen ihrer drei Peiniger wieder, die einst nach dem Krieg ihren Vater, einen Kriegsverbrecher, und ihren Bruder getötet, sie als kleines Kind aber verschont haben.

Masken fallen, Lügen zerbrechen

Traum und Schuld werden hier thematisiert, auch eine mögliche Sichtweise für den Bartók-Solitär. Dessen ungewöhnlichste, radikalste Visualisierung (neben diversen anderen Einakter-Combos) bis heute die erstmals von Herbert Wernicke 1988 in Amsterdam verwirklichte Doppelung durch sich selbst war. Zweimal lief das gleiche Geschehen ab – auf verschiedene Weise wie aus jeweils anderen Blickwinkeln. Diesmal gelingt es noch radikaler.

Ein Straße ohne Verkehr vor endlosem Rundhorizont. Ein Edward-Hopper-Szenarium. Nur eine Bogenampel blinkt gleichmütig als strukturierte Zeit. Und erlischt irgendwann. Links in dem Café sitzen ein paar Leute auf der Terrasse unter dem schmiedeeisernen Baldachin. Andere bewegen sich in Zeitlupe auf der Straße, wo ein älterer Mann Lose verkauft. Eine Frau mit Mantel, Hut und Rucksack spricht ihn an, erkennt ihren Peiniger. Man setzt sich ins Café, redet, Masken fallen, Lebenslügen zerbrechen. Am Ende gehen die beiden in ein Hotel.

Sieben durch Blackouts getrennte Szenen, den sieben Türen des Bartók-Opus gleich. Das hebt an, als die beiden im Doppelzimmer sitzen. Der Rausch des ersten Liebemachens ist vorbei, jetzt wird sich ausgesprochen, erschreckt, entsetzt über sich selbst. Wie weit konnten die scheinbar lange abgelegten Ereignisse die eigene Existenz deformieren? Sehr weit, wie sich nun herausstellt. Aber sind die beiden da im Bett überhaupt noch dieselben?

Was wird hier gespielt?

Auf der Bühne nicht. Obwohl Eötvös für „Senza Sangue“ die Bartók-Besetzung Mezzosopran und lyrischer Bariton vorsieht. In „Senza Sangue“ sind in Hamburg die gläsern-verhangene Sopranistin Angela Denoke und der schwere, rauchige Bariton Sergei Leiferkus zu erleben.

Zwar scheinen dieselben Figuren anschließend auch im zweiten Stück anwesend zu sein, in dem engen, grünen Hotelraum mit den altmodisch braunschweren Möbeln. Aber die Sänger sind diesmal die weit erdiger tönende Claudia Mahnke und der heller timbrierte Bálint Szabó.

Existenz und Identität. Ist der Raum überhaupt real? Oder nur eine Als-ob-Situation im Kopf der beiden, oder nur von einem? Was wird hier gespielt, vorgespielt, durchgespielt? Das, was Bartók komponiert hat, das Öffnen der Türen als ertrotzter Weg zur Erkenntnis, die niemandem nützt, jedenfalls nicht. Alles nur Ereignetes vor einem inneren Auge. Das die Musik umso stärker sprechen lässt.

Hölle im Kopf

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Peter Eötvös steht selbst am Pult der prachtvoll tönenden Hamburger Philharmoniker. „Senza Sangue“ freilich klingt grau und bleich, es brodelt moderat, viel Glockenspielklingling macht nervös. Selten schlägt die Dynamik-Amplitude aus. Und auch die Gespräche der Protagonisten sind so bleiern und gleichförmig düster wie der dämmernde Himmel.

Wie viel Vitalität, Temperament, Farbe, Determiniertheit steckt dagegen in der meisterlichen, bis heute giftig schillernden, nihilistischen Bartók-Partitur! Hier wird nicht nur mit Worten gekämpft, der schimmernde, mäandernde Klang scheint fast körperhaft im verbalen Clinch greifbar. Tcherniakov dreht erbarmungslos an der Schraube, Eötvös ebenfalls. Seine Figuren entkommen dem nicht. In ihrer Hölle im Kopf – ohne Blut, „senza sangue“.

Selten tönte das Stockholm-Syndrom, die Hingezogenheit des Opfers zu seinem Peiniger, schöner und intensiver. Am Ende fliegen die Videobilder mit den Erinnerungen von damals wieder über die Wände. Ende offen, Opernexperiment geglückt.

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