Eiseskälte, Feuersbrunst

Der Countertenor Max Emanuel Cencic glaubt an die Überzeugungskraft von Johann Adolf Hasses Oper «Siroe» – und die Schweizer Erstaufführung an der Opéra de Lausanne unter seiner Regie gibt ihm recht.

Martina Wohlthat, Lausanne
Drucken
Singen allein reicht ihm nicht: Der Countertenor Max Emanuel Cencic ist sein eigener Regisseur und Impresario. (Bild: Guillaume L'Hote)

Singen allein reicht ihm nicht: Der Countertenor Max Emanuel Cencic ist sein eigener Regisseur und Impresario. (Bild: Guillaume L'Hote)

Man muss wahrscheinlich Sänger sein, um als Regisseur den Mut zu haben, eine dreistündige Barockoper mit ellenlangen Rezitativen nahezu ungekürzt auf die Bühne zu bringen. Der Countertenor Max Emanuel Cencic glaubt an die Überzeugungskraft von Johann Adolf Hasses Oper «Siroe» – und die Aufführung an der Opéra de Lausanne unter seiner Regie gibt ihm recht.

Cencic, der in Wien beheimatete Alleskönner mit kroatischen Wurzeln, singt auch die Titelpartie. Als Prinz aus «1001 Nacht» kostümiert, betritt er die Bühne. Seine erste Arie, «La sorte mia tiranna», schwingt sich mit weitbogigen Kantilenen und subtilen Klangfarben auf zu heroischem Pathos, bietet Raum für das stimmliche Feuerwerk, das die Fans von Cencic erwarten. Ohne Frage: ein Ausnahmesänger, der in der hohen Stimmlage des Countertenors so natürlich singt, als ginge es bloss darum, die Musik ein- und wieder auszuatmen.

Primo Uomo und Impresario

Auch Sängerinnen wie Dilyara Idrisova (Arasse) haben an diesem Abend koloraturentechnisch einiges zu bieten, aber nur Cencic verbreitet beim Singen diese Aura absoluter Selbstverständlichkeit, den untrüglichen Instinkt für stimmliche Nuancen – ein rastlos hin und her wandernder Tiger auf der kleinen Lausanner Bühne, die zu zwei Dritteln vom Orchester eingenommen wird.

Die Opéra de Lausanne kommt so zu einer Schweizer Erstaufführung als Komplettlösung, denn Cencic ist nicht nur ein formidabler Sänger, sondern mittlerweile auch sein eigener Produzent und Regisseur: Er entwirft Operninszenierungen, singt darin die Titelrollen, bringt CD-Produktionen und die sie begleitenden Tourneen auf den Weg – das alles erinnert ein wenig an eine Wandertruppe ohne Thespiskarren, Cencic agiert zugleich als deren «Primo Uomo» und als sein eigener Impresario.

In der Musikwelt ist das heute kein Einzelfall mehr: Gesangsstars verlassen sich nicht mehr auf die grossen Häuser und darbende Plattenlabels, sie suchen selbst die Bravourstücke, die Sängerbesetzung und das Orchester aus – in diesem Fall das griechische Originalklang-Ensemble Armonia Atenea unter dem Dirigenten George Petrou.

Das Orchester, im Rücken der Sänger aufgestellt, bewährte sich hervorragend bei der temporeichen Affekt-Gestaltung und trug mit seinem kräftig akzentuierten Spiel die Sänger und Zuhörer durch den Abend. Mitunter schien es, als treibe Petrou die Sänger mit seinen rasanten Tempi zur Parforcejagd durch Hasses ariose Gefilde.

Die Inszenierung erinnert in märchenhaftem Dekor an persische Miniaturen, arbeitet vor allem mit Lichteffekten und doppelten Videoprojektionen und vermeidet alles, was von der Musik ablenkt. Eindeutige Gefühlslagen wie Rachsucht, Machtgier und Leidenschaft werden eins zu eins dargestellt.

Vorläuferin der «Zauberflöte»

Dass der Mensch sich durch Vernunft zügelt und zum Besseren verändert, ist eine Idee der Aufklärung, Hasses Oper für Cencic somit eine Vorläuferin der «Zauberflöte». Prinz Siroe muss gegen die Widrigkeiten des Schicksals und der Liebe viel Charakterfestigkeit beweisen, bis das Gute über das Böse siegt.

Gekonnt verbinden sich die Videos von Etienne Guiol, die orientalische Muster und florales Design zeigen, mit den farbenprächtigen Kostümen Bruno de Lavenères – samt Turban und Krummdolch im Gürtel. Das Libretto von Metastasio erzählt vom Nachfolgegerangel einer persischen Dynastie. Der alte König Cosroe möchte seinen jüngeren Sohn Medarse anstelle seines Erstgeborenen Siroe zum Thronfolger machen. Metastasio gestaltet daraus ein idealistisches Drama, in dem es um Pflichtgefühl und Sohnesliebe geht und darum, wie man unter schwierigen Bedingungen moralisch korrekt handelt.

Die erste Version von Hasses «Siroe» entstand 1733 für das Opernhaus in Bologna, Cencic wählte jedoch die zweite Fassung, die Hasse 1763 für den Dresdner Hof komponierte und die stilistisch bereits deutliche Züge der Vorklassik trägt.

Counter mit Striemen

Als Gefangener mit blutigen Striemen auf dem nackten Oberkörper stimmt Cencic im dritten Akt ein meisterliches Recitativo accompagnato an, es ist von Georg Friedrich Händel entlehnt, der ebenfalls eine «Siroe»-Oper komponierte. Die anschliessende Verzweiflungsarie singt er genial auf des Messers Schneide – mit halsbrecherischen Pianissimi und wundervollen Verzierungen.

Gegenüber der vor zwei Jahren entstandenen CD-Produktion mit Cencic in der Titelrolle ist die übrige Besetzung in Lausanne etwas weniger spektakulär: Mary-Ellen Nesi singt Siroes boshaften jüngeren Bruder Medarse als Hosenrolle; zur Bravourarie «Fra l'orror della tempesta» schwingt sie als Herrensohn die Peitsche und steuert etwas gradlinig auf die vokalen Effekte zu. Julia Lezhneva frappiert als Laodice mit phänomenal girrenden Koloraturen ihrer «geläufigen Gurgel». Eiskalt läuft es einem über den Rücken, wenn sie in der Arie «Se il caro figlio» dem Tyrannen ihre triumphalen Töne entgegenschleudert.

Als Emira behauptet sich Roxana Constantinescu im Sturm widerstreitender Gefühle. Emira hat einen schweren Stand, wurde ihr eigener Vater doch kurz zuvor vom Vater ihres Geliebten Siroe gemeuchelt. Die Stunde der Rache schlägt, als sie mit der Arie «Che furia, che mostro» den am Boden liegenden Herrscher Cosroe demütigt. Juan Sancho gibt diesen machtbesessenen Greis in Nosferatu-Maske. Auch der spannendste Kontrast zwischen Szene und Musik geht auf sein Konto: Zu den gefrierenden Klängen seiner Arie «Gelido in ogni vena» sieht man im Bühnenbild eine Feuersbrunst auflodern – durchaus ein Sinnbild für diese Aufführung, die für ihren Mut, eine komplette Hasse-Oper mit solch hohen sängerischen Standards auf die Bühne zu bringen, höchstes Lob verdient.