Musik statt Chaos

An der Bayerischen Staatsoper hat sich der Regietheater-Altmeister Harry Kupfer nach mehr als einem Vierteljahrhundert erneut mit Schostakowitschs einst verfemten Opernschocker beschäftigt. Die Sieger heissen Kirill Petrenko und Anja Kampe.

Marco Frei, München
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Das Wetter sagt es: Diese Lady (Anja Kampe) geht zur Not über Leichen. (Bild: Wilfried Hösl)

Das Wetter sagt es: Diese Lady (Anja Kampe) geht zur Not über Leichen. (Bild: Wilfried Hösl)

Die Szene könnte grauenvoller nicht sein: In siegreicher Pose reisst die Kaufmannsfrau Katerina Ismailowa das weisse Laken vom Körper ihres toten Schwiegervaters Boris. Sie hat ihn mit Rattengift getötet. Als sie den Toten erblickt, weitet sich ihr Mund zu einem erstickten, stummen Schrei – zwischen Entsetzen und Verzweiflung. Doch schon wenige Augenblicke später vergnügt sie sich mit dem feschen Knecht Sergei, während der Leichnam weggetragen wird. Diese Frau hat ein Gewissen, aber das macht sie noch nicht zu einer Schillerschen Verbrecherin aus verlorener Ehre.

Dafür ist Harry Kupfers Inszenierung von Dmitri Schostakowitschs Oper «Lady Macbeth von Mzensk» nach Nikolai Leskow, die jetzt an der Bayerischen Staatsoper Premiere hatte, viel zu differenziert – und Münchens Generalmusikdirektor Kirill Petrenko sowie die grossartige Anja Kampe bei ihrem Rollendebüt in der Titelpartie trugen das Ihre zu diesem Eindruck bei. Man konnte durchaus anderes befürchten, weil Kupfer die Oper von 1934 vor der Premiere ein «Frauenstück» genannt hatte – was sie keineswegs ist.

Hörigkeit statt Liebe

Im Vergleich zu Beethovens Leonore alias «Fidelio» ist Katerina Ismailowa als Frau geradezu unemanzipiert und apolitisch. Denn diese Lady Macbeth mordet zuvörderst, um ihr persönliches Glück zu verwirklichen. Im repressiven Umfeld des herrischen, lüsternen Boris – sehr präsent gespielt von Anatoli Kotscherga – hat sie zwar ihre Ehre verloren; allerdings bringt sie den Despoten erst um, als dieser sie in flagranti ertappt: beim Ehebruch mit Sergei (in nachwirkender Gestaltung von Misha Didyk). Boris muss sterben, weil er Katerinas Glück im Weg steht – wie später ihr Gatte Sinowi (Sergey Skorokhodov).

Mit Liebe hat das nichts zu tun, sondern mit Hörigkeit. Nicht sie als Frau zieht hier die Strippen, sondern die Präsenz des Mannes Sergei, dem sie gänzlich verfallen ist. Katerina handelt nicht selbst-, sondern fremdbestimmt. So ist Schostakowitschs «Lady» weder ein «Emanzenstück» noch eine «Freiheitsoper». Hier ringt das Ich mit dem Wir, um sich schliesslich in eiskalte Fluten zu stürzen – die Nebenbuhlerin Sonjetka (Anna Lapkovskaja) mitreissend. Der Konflikt aber zwischen dem Individuum und dem Kollektiv zieht sich durch das gesamte Schaffen Schostakowitschs, und Kupfer führt ihn zielgenau durch.

Oben und unten

Er lässt die Oper auf einem vorrevolutionären Fabrikgelände spielen, das sich bald zu einer Trümmerlandschaft fragmentiert. Das erinnert an Kupfers vorangegangene Inszenierung des Werkes in Köln aus dem Jahr 1988, die in einer kargen Landschaft spielte. Neu ist nun die stärkere Herausarbeitung der Vielschichtigkeit. Das äussert sich vor allem auch in der Bühne von Hans Schavernoch: Inmitten der öden Fabriklandschaft steht das Schlafgemach der Katerina, ein beengter, hölzerner Käfig, der nach oben gefahren wird, wenn sich die Ereignisse dramatisch verdichten und unmittelbar verweben. Oben leidet und verliert sich das Ich, unten wütet die Masse – das krude Wir. Mit solchen Simultanszenen visualisiert Kupfer überaus wirkungsvoll die tragikomische Groteske von Schostakowitsch.

Natürlich sind die im Hintergrund zappelnden Harlekine in Giorgio-Strehler-Manier oder die quasi-epische Brechung des Realismus bestens bekannte Regiemittel des mittlerweile 81-Jährigen. Dafür aber entlarvt Kupfers genaue Lesart dieser Oper manche Widersprüche in der Haltung Schostakowitschs. Bis auf Katerina karikiert Schostakowitsch alle Protagonisten, die soziale Umgebung mutiert zur Fratze des Bösen; mit plumpen Rülpsern des Kontrafagotts stolpert Boris durch die Szene, und auch in der rohen Darstellung der Polizei, des Popen oder des Volkes wird jedwede Autorität untergraben.

Im damaligen Stalinismus war dies ein «Spiel mit Überspanntheiten, das übel ausgehen kann», so das Parteiorgan «Prawda» in dem Hetzartikel «Chaos statt Musik» von 1936. Zur Zeit des «Grossen Terrors» war dies ein lebensbedrohlicher Satz, Schostakowitsch war damals 29 Jahre alt. Wenn Schostakowitsch zudem den letzten Akt in einem sibirischen Gefangenenlager spielen lässt, so entlarvt er eine grausame Kontinuität der russischen Geschichte – von der Zarenzeit über den Sowjetkommunismus bis zu Putin. Mit den Karikaturen der Bauern und des Popen folgte Schostakowitsch hingegen der offiziellen Politik, gewollt oder ungewollt.

Als Schostakowitsch an seiner «Lady» feilte, wütete Stalins «Entkulakisierung», der Abermillionen Bauern zum Opfer fielen – ganz zu schweigen von den brutalen Verfolgungen der Geistlichkeit. Hier entwickeln Schostakowitschs Karikaturen einen schalen Nachgeschmack, changiert die Oper zwischen Kompromiss und Konflikt, was sich in der Musik fortsetzt. Im Vergleich zur früheren, hochavantgardistischen Gogol-Oper «Die Nase» wirkt die «Lady» gemässigter. Manches könnte von Peter Tschaikowsky, Gustav Mahler oder auch Jacques Offenbach stammen.

Man muss einen hellhörigen Dirigenten wie Petrenko und das famose Bayerische Staatsorchester erleben, um kühne Klangwirkungen zu hören. Statt Effekte zu überzeichnen, nimmt Petrenko den Druck aus der Musik, wagt radikale Differenzierungen in Ausdruck und Dynamik. In kammermusikalischen Reduktionen erreicht er eine farbenreiche Transparenz, und wo sich Dissonanzen reiben, erwachsen fast schon clusterhafte Klangreihungen. Dagegen blieben an der Premiere die frivolen Posaunen-Glissandi im auskomponierten Geschlechtsakt von Katerina und Sergei ähnlich moderat wie die unverhohlene Massenvergewaltigung der Köchin Axinja (Heike Grötzinger).

Petrenko contra Jansons

In der Amsterdamer Produktion von 2006, die Martin Kušej inszenierte, agierte Mariss Jansons hier pointierter; sie ist auf DVD erhältlich (Opus Arte). Dafür schenkt Petrenkos feinsinnige Leitung den Solisten viel stimmlichen Gestaltungsraum, was vor allem Anja Kampe mustergültig zu nutzen versteht. Ihre Katerina sehnt sich nach Liebe, um binnen Augenblicken zwischen einnehmendem Lyrismus und verstörender Hässlichkeit zu wechseln. Damit definiert sie ihren ganz eigenen Zugang zwischen der legendären Galina Wischnewskaja und der Amsterdamer Interpretin Eva-Maria Westbroek. Ein grosses Rollendebüt ist da geglückt.