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Zynischer Blick auf die "beste aller Welten"Von Thomas Molke / Fotos von Paul LeclaireDie Kölner Oper und das Staatstheater am Gärtnerplatz in München verbindet derzeit so einiges. Beide Häuser müssen seit mehreren Spielzeiten mit einer Interims-Spielstätte vorlieb nehmen, da die Stammhäuser saniert werden. In beiden Fällen ziehen sich die Renovierungsarbeiten hin. Während man allerdings in München im Moment noch fest damit rechnet, dass das Theater ab Sommer 2017 wieder bespielt werden kann, dürfte es in Köln noch etwas länger dauern. Aber der Spielbetrieb geht weiter, und nun haben beide Bühnen in einer Kooperation Leonard Bernsteins Candide herausgebracht. Das Stück hat seit seiner Uraufführung am 29. Oktober 1956 im Colonial Theater in Boston zahlreiche Überarbeitungen erfahren. Die Uraufführung der zunächst zweiaktigen Operette wurde ein finanzieller Misserfolg, weil das ursprüngliche Libretto von Lillian Hellman allzu verworren war. Auf einen Text von Hugh Wheeler wurde das Stück dann zu einem einaktigen Musical umgewandelt, das am New Yorker Broadway immerhin auf 740 Aufführungen kam, bevor Bernstein dann am 17. Mai 1988 die letzte autorisierte Fassung, die sogenannte "Scottish Opera Version", vorlegte. Nachdem diese Fassung im Dezember 2015 in der Reithalle in München Premiere feierte, ist sie nun auch im Staatenhaus in Köln Deutz zu erleben. Voltaire (Alexander Franzen, links) und Candide (Gideon Poppe, Mitte) in der "besten aller Welten" in Westfalen (im Hintergrund rechts: Cunegonde (Emily Hindrichs) und Maximilian (Miljenko Turk)) Die Handlung basiert auf dem 1759 erschienenen Erfolgsroman Candide oder Der Optimismus des französischen Philosophen Voltaire, den dieser unter dem Eindruck des großen Erdbebens von Lissabon aus dem Jahr 1755 niedergeschrieben hat und der die Frage aller Fragen aufwirft, ob es angesichts des unermesslichen Elends in der Welt überhaupt einen Gott gibt. Die Titelfigur Candide wächst gemeinsam mit seiner Kusine Cunegonde und ihrem Bruder Maximilian auf dem Schloss seines Onkels, des Barons Thunder-ten-Tronck, in Westfalen auf und bekommt von seinem Lehrer, dem Philosophen Dr. Pangloss, immer wieder vermittelt, dass er in der besten aller Welten lebe. Doch diese "beste aller Welten" bekommt immer mehr Risse. Zunächst wird Candide aus dem Haus geworfen, weil er seine Kusine geküsst hat, und schließt sich der bulgarischen Armee an. Bald muss er zusehen, wie seine frühere Heimat zerstört wird. Gemeinsam mit seinem mittlerweile an der Syphilis erkrankten Lehrer begibt er sich nach Lissabon, wo die beiden Zeuge eines verheerenden Vulkanausbruchs werden und anschließend als Ketzer gehängt werden sollen. Candide kann nach Paris entkommen, wo er Cunegonde wiedertrifft, die als Kurtisane ein trauriges Leben führt. Candide tötet im Affekt zwei ihrer Liebhaber und flieht mit ihr und einer alten Lady in die Neue Welt. Dort fallen sie Sklavenhändlern in die Hände. Auf einer weiteren Flucht gelangt Candide in das mythische Eldorado. Doch seine Liebe zu Cunegonde lässt ihn dort ebenfalls keine Ruhe finden. Er kauft eine alte Fregatte, mit der er bei der Überfahrt zurück nach Europa untergeht und über Konstantinopel nach Venedig gelangt, wo er erneut auf Cunegonde und Dr. Pangloss trifft. Seinen ehemaligen Optimismus hat Candide nun verloren und beschließt, sich gemeinsam mit Cunegonde aufs Land zurückzuziehen und "seinen Garten zu bestellen". Paquette (Nazide Aylin) und der "schöne" Maximilian (Miljenko Turk) Auch wenn Bernstein in diesem Stück die Gelegenheit sah, sich mit aktuellen politischen Systemen, namentlich der Kommunistenverfolgung in der McCarthy-Ära, auseinanderzusetzen, sieht das Regie-Team um Adam Cooper keine Notwendigkeit, dem Stück szenisch einen modernen Anstrich zu verpassen, sondern wählt einen eher konventionellen Ansatz. So tritt Alexander Franzen als Erzähler Voltaire in historisierendem Kostüm mit barocker Perücke auf, und auch die übrigen Kostüme, für die Alfred Mayerhofer verantwortlich zeichnet, bleiben der Geschichte treu und verlegen die Handlung nicht in eine andere Zeit. Man traut es dem Publikum selbst zu, seine Parallelen zu aktuellen Geschehnissen zu ziehen. Die verschiedenen Stationen von Candides Abenteuern sind auf zahlreichen naiven Gemälden festgehalten, die die Bühne einrahmen und an ein Bilderbuch erinnern. In der Mitte prangt eine große historische Weltkarte, wie sie kurz nach Entdeckung der Neuen Welt verbreitet war. Als Gag sieht man als Videoprojektion stets einen Pfeil an der Stelle landen, an der sich die Protagonisten der Geschichte gerade befinden. Hinter der Weltkarte ist das Gürzenich-Orchester Köln positioniert. Ein kleiner Teil des Publikums sitzt rechts und links auf der Bühne, wird allerdings nicht in das Geschehen einbezogen. Cunegonde (Emily Hindrichs, rechts) und die alte Lady (Dalia Schaechter) Musikalisch bietet das Stück einige Höhepunkte. Schon die Ouvertüre hat es in sich und stürzt das Publikum mit zahlreichen Wechseln in den Tempi in eine regelrechte Achterbahnfahrt. Das Gürzenich-Orchester Köln unter der Leitung von Benjamin Shwartz erweist sich hierbei als kongenialer Steuermann und lotet die unterschiedlichen musikalischen Stile differenziert aus. Wenn Alexander Franzen als Dr. Pangloss, Gideon Poppe als Candide, Emily Hindrichs als Cunegonde, Miljenko Turk als Maximilian und Nazide Aylin als Paquette in der Eröffnungsnummer die beste aller möglichen Welten besingen, ist das so zuckersüß, dass man es wirklich nicht ernst nehmen kann. Subtil ist der Humor in dem anschließenden Duett zwischen Hindrichs und Poppe, "Oh happy we", in dem Cunegonde und Candide ihre unterschiedlichen Vorstellungen vom Glück offenbaren. Während Cunegondes materielle Vorlieben hier schon mehr als deutlich werden, präsentiert sich Candide noch so naiv und rein wie sein Name. Franzen wechselt zwischen dem Erzähler Voltaire, dem Lehrer Dr. Pangloss und dem Weltenbummler Cacambo mit großem Spielwitz und unglaublichem Tempo und überzeugt mit leichtem Spielbariton. Wie Franzen war auch Poppe als Candide bereits in München zu erleben und gestaltet die Titelfigur mit weichem Tenor und bewegendem Spiel. Hindrichs punktet als Cunegonde mit klarem Sopran, den sie vor allem in ihrer berühmten Arie "Glitter and be gay" unter Beweis stellen kann. Hier begeistert Hindrichs mit sauber angesetzten Koloraturen und trifft auch im ersten Teil der Arie überzeugend die melancholische Stimmung, die sie am Ende der Arie mit herzzerreißender Wehklage wieder aufnimmt. Wiedersehen in Venedig: Cunegonde (Emily Hindrichs, links), Candide (Gideon Poppe) und die alte Lady (Dalia Schaechter, rechts) Komische Akzente setzt auch Dalia Schaechter in der Partie der alten Lady. So avanciert nicht nur ihre Geschichte über den Verlust ihrer Pobacke zu einem aberwitzigen Höhepunkt des Abends. In ihrem Song "I am easily assimilated" macht Schaechter mit großem Spielwitz deutlich, was für eine Lebenskünstlerin die alte Lady ist. Ein weiterer musikalischer Höhepunkt ist das Quartett im zweiten Akt, "What's the use", wenn sich die alte Lady, John Heuzenroeder als Ragotzky, Turk als Maximilian und Young Woo Kim als Crook die Frage stellen, welchen Sinn der Betrug eigentlich hat, wenn man das Geld doch ständig an die nächsthöhere Instanz verliert. Heuzenroeder punktet außerdem als schmieriger Vanderdendur, der dem naiven Candide das Gold abluchst, um ihm ein untüchtiges Schiff für die Überfahrt nach Europa zu verkaufen, als skrupelloser Govenor, der Cunegonde die Ehe verspricht, um sie ins Bett zu kriegen, und als alter klappriger Jude Don Issachar, der als Cunegondes Liebhaber von Candide getötet wird. Nazide Aylin, die auch bereits in München zu erleben war, überzeugt als Paquette mit frechem Spiel. Auch Lucas Singer, Dennis Wilgenhof, Peter Neustifter, Lars Schmidt, Frank Wöhrmann, Birgit Mühlram, Maria Mucha und Cihan Caglar überzeugen in zahlreichen kleineren Rollen. Der von Andrew Ollivant einstudierte Chor präsentiert sich ebenfalls spielfreudig, so dass es am Ende großen Beifall für alle Beteiligten gibt.
Bernsteins Comic Operetta ist zwar nicht so berühmt wie seine West Side Story, hat aber trotzdem musikalisch einiges zu bieten und präsentiert in Adam Coopers Inszenierung mit dem spielfreudigen Ensemble beste Unterhaltung auf hohem Niveau. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Musikalische Leitung Inszenierung und Choreographie Bühne Kostüme Licht Video Chorleitung Dramaturgie
Gürzenich-Orchester Köln Chor der Oper Köln Solisten*Premierenbesetzung Voltaire / Pangloss / Cacambo / Martin Candide
Cunegonde Maximilian
/ Captain
The Old Lady
Paquette / Ensemble Officer 1 /
Inquisitor 1 / Judge / James / Inquisitor 2 / Judge / Cardinal Inquisitor 3 / Judge / Slave Driver
/ Sailor Act 1 / Waiter / Señor 2
/ Stanislaus / Informer 2 / Señor 1 / Charles
Edwards / Informer 1 / Sultan Achmet / Ensemble Crook Baroness / Waitress / Sailor Act 2 / Officer 2 / Ensemble Baron Thunder-ten-Tronck / Hangman / Slave Girl / Dancer Monkey / Dancer Croupier / Bear-Keeper Cosmetic Merchant Doctor Junkman Alchemist
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