Die Geisha und der Elefant

Zur Inaugurazione dirigiert Riccardo Chailly an der Scala erstmals wieder die Urfassung von Puccinis «Madama Butterfly», die hier bei der Uraufführung 1904 ein Fiasko erlebte. Die Regie könnte sich etwas von Chaillys Gestaltungswillen abschauen.

Christian Wildhagen, Mailand
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Ein Bilderbuch-Japan bringen Alvis Hermanis und die Ausstatterin Leila Fteita in Mailand auf die Bühne. (Bild: Teatro alla Scala)

Ein Bilderbuch-Japan bringen Alvis Hermanis und die Ausstatterin Leila Fteita in Mailand auf die Bühne. (Bild: Teatro alla Scala)

Vielleicht sollte man sich doch ernsthaft Sorgen machen um Italien. Nicht einmal zu einem ordentlichen Krawall will der Ärger über die Verhältnisse im Staate noch reichen. Dabei war die «Inaugurazione», die traditionelle Spielzeiteröffnung an der Mailänder Scala, doch von jeher ein Tag des Zornes und der Abrechnung mit den Mächtigen!

Was hat man da im Zeichen des Stadtheiligen Ambrosius nicht schon alles erlebt, wenn Italiens wichtigstes Opernhaus einen Abend lang zur schwer belagerten Festung mutiert: bürgerkriegsähnliche Zustände, Ministerpräsidenten, die mit einem halben Dutzend Regenschirmen vor Farbbeutelattacken und Eierwürfen geschützt werden mussten, Rauchbomben, Tränengas, und das alles untermalt von Protestchören, die in ihrer grölenden Leidenschaftlichkeit den gesungenen Leidenschaften auf der Bühne kaum nachstanden. Alles ganz grosse Oper, wie eigentlich immer in dem Land, das die Oper erfunden hat – doch diesmal?

Fehlende Adressaten

Ein paar versprengte Aufrechte, von der Übermacht der Polizei zusammengepfercht in einer Ecke des Platzes vor der Scala, schwenken ein bisschen lustlos ihre Protestplakate aus dem letzten Jahr und skandieren vorzugsweise Parolen aus dem vorletzten Jahrhundert. Dann und wann wirft jemand einen verfrühten Silvesterböller in die Runde. Irgendwie traurig, das Ganze – so traurig wie der Zustand eines Landes im Jahr X der politischen Dauerkrise.

Freilich ist an diesem Abend auch gar niemand da, der sich wirklich gemeint oder gar angesprochen fühlen könnte von dem Gegröle. Nach dem Rücktritt von Ministerpräsident Matteo Renzi am selben Tag liess sich auch Staatspräsident Sergio Mattarella abends beim Publikum mit warmen Worten entschuldigen, beflissen überbracht vom Scala-Intendanten Alexander Pereira.

Ebenso glänzte der Rest der jetzt nur noch geschäftsführenden Regierung einschliesslich Kulturminister durch Abwesenheit, und die Prominentendichte soll auch schon höher gewesen sein. Kaum einen Atemzug nach Pereiras Abgang stürzte sich der Dirigent Riccardo Chailly denn auch mit solchem Risorgimento-Feuer in die schmissige Nationalhymne, dass selbst textsichere «Fratelli d'Italia» mit dem Singen nicht mehr nachkamen – und vorüber war der offizielle Teil. Der Kontrast zum Folgenden hätte kaum grösser ausfallen können.

Die Ur-«Butterfly»

Dass man Giacomo Puccinis «Madama Butterfly» für diese Eröffnungspremiere ausgewählt hatte, war selbstredend alles andere als ein Wagnis. Das Stück ist an der Scala ein Dauerbrenner, und auch in der übrigen Opernwelt gehört die «Tragedia giapponese» unerschütterlich zu den populärsten Opern überhaupt. Wie immer in solchen Fällen führt die intensive Rezeption allerdings zu Nachlässigkeiten, Verschleifungen und falschen Traditionen im Umgang mit dem Werktext. Ein gefundenes Fressen für Chailly, den neuen Musikdirektor der Scala, der sich seinen Partituren mit einer philologischen Umsicht und Genauigkeit zu nähern pflegt, wie man sie eher aus der historischen Aufführungspraxis kennt.

Bei «Madama Butterfly» fördert die Recherche Erstaunliches zutage: Ausgerechnet von einer der meistgespielten Opern des Repertoires gibt es keine definitive Fassung – hat Puccini doch auch noch nach drei teilweise einschneidenden Umarbeitungen immer wieder, bis ins Jahr 1919, an der herzerwärmenden Geschichte der kleinen Frau Schmetterling herumgedoktert.

Das Gefühl, der Welt noch die finale «Butterfly» schuldig zu sein, kam fraglos nicht von ungefähr, bricht doch die Dramaturgie des Stückes radikal mit dem auch von Puccini selbst häufig bedienten Muster der klassischen Dreieckshandlung, nicht nur in der italienischen Oper: Tenor liebt Sopran, Bariton opponiert mit allen Mitteln. Hingegen nähert sich die «Butterfly» mit ihrer gegen Ende immer stärkern Fokussierung auf die Titelfigur dem Typus des psychologisierenden Monodrams, der wenig später in Werken wie Strauss' «Salome» und «Elektra» sowie der «Erwartung» von Schönberg gipfeln sollte.

Puccinis grösster Misserfolg

Chailly zieht aus Puccinis fortwährenden Änderungen, die man zum Teil auch als Konzessionen an Publikumserwartungen deuten kann, den für ihn charakteristischen Schluss, es bei dieser Premiere doch einmal mit der Ur-«Butterfly» zu versuchen – jenem Werk also, mit dem Puccini bei der Uraufführung am 17. Februar 1904 den grössten Misserfolg seines Lebens einfuhr, und zwar genau hier, an der Scala.

Der auffälligste Unterschied zu den späteren Neufassungen ist fraglos das Fehlen der nachkomponierten Arie «Addio, fiorito asil» für den reumütigen Liebhaber Pinkerton, der nun plötzlich begreift, dass seine Liaison mit der Geisha Ciò-Ciò-San für diese, aber auch für ihn selbst weit mehr war als ein erotisches Abenteuer. Der Pinkerton der Urfassung, der bezeichnenderweise noch die holprigen Vornamen Francis Blummy trägt (anstelle des honorigen «Benjamin Franklin Pinkerton» der späteren Versionen), ist als Charakter viel oberflächlicher und zu solchen Reflexionen gar nicht fähig – er stürzt am Ende, heillos überfordert von der Situation, einfach von der Bühne.

Doch gerade darin wirkt er viel authentischer als die spätere Figur des smarten amerikanischen Marine-Leutnants, die Puccini mit allen Tricks sympathisch machen und zu einem klassischen Tenor-Liebhaber aufwerten wollte. Bryan Hymel bringt dessen bedenkenloses Draufgängertum (zu dem auch die vielen verbalen Fauxpas und chauvinistischen Äusserungen über das ihm unbekannte japanische Brauchtum passen, die später wohlweislich eliminiert wurden) mit seiner hellen, kaum baritonal grundierten Stimme sehr treffend und mit der nötigen Unbeschwertheit zum Ausdruck. Ein Schelm, wer sich dabei an den munter durch den Porzellanladen trampelnden Elefanten erinnert fühlt, der demnächst US-Präsident wird.

Feinzeichnungen

Neben der Streichung etlicher retardierender Genre-Szenen im ersten Akt, darunter ein Arioso für den beschwipsten Onkel Yakusidé, betrifft die frappierendste Änderung der späteren Versionen ausgerechnet das berühmte Leitthema der Butterfly («Spira sul mare e sulla terra»), bei dem in der Urfassung der zweite und dritte Ton vertauscht sind – eine scheinbar geringfügige Abweichung, doch mit weitreichenden Folgen für den Charakter der Musik. Denn durch die weniger sangliche Melodieführung wirken das Thema und die gesamte Butterfly-Motivik viel duftiger, um nicht zu sagen: blumiger und stehen unversehens ähnlich floralen Melodie-Erfindungen von Fin-de-Siècle-Zeitgenossen wie Franz Schreker und Alexander Zemlinsky nahe.

Chailly erweist sich auch in dieser Hinsicht als besonders hellhöriger Interpret. Er nimmt dem Orchestersatz mit den an diesem Abend erfreulich konzentriert spielenden Musikern der Scala alles Schwere, Üppige und manchmal Operettenhaft-Süffige; stattdessen hellt er das Bassregister auf und zeichnet die darüber frei fliessenden Melodiebögen so fein, mit gleichsam linearer Genauigkeit nach, als dirigiere er mit dem Kalligrafen-Pinsel.

Und wieder tut sich dadurch ein musikhistorischer Durchblick auf, der sich selten in dieser Klarheit ergibt. Denn Chailly, zugleich einer der kundigsten Mahler-Dirigenten unserer Zeit, macht deutlich, wie viel das vier Jahre jüngere «Lied von der Erde», namentlich im «Abschied», dem Exotismus der «Butterfly»-Partitur verdankt.

Stimmliches Harakiri

Maria José Siri entspricht – wie die meisten Interpretinnen der Titelrolle – ganz und gar nicht dem notorischen Männertraum einer angeblich erst fünfzehn Jahre alten Geisha. Auch in der Urfassung, die Julian Smith schon 1982 aus dem autografen Material rekonstruiert hat, wäre die fordernde Partie für eine nur annähernd so junge Sängerin stimmlich der reinste Selbstmord, lange vor dem am Ende auf der Bühne tatsächlich zu vollziehenden Harakiri. Doch in Mailand versucht Maria José Siri immerhin in Ansätzen, ihrer anfangs etwas verspannten Sopranstimme eine Zartheit und Leichtigkeit in der Höhe zu geben, die mit Chaillys überragender Feinzeichnung des Orchestersatzes harmoniert. Besonders eindringlich gelingt ihr das visionäre «Un bel dì vedremo», gerade weil sie sich den einzigen Fortissimo-Ausbruch bis zuletzt aufspart.

Neben der darstellerisch sehr authentisch wirkenden Annalisa Stroppa als Dienerin Suzuki und Carlos Álvarez als Konsul Sharpless sind auch die übrigen Komparsenrollen ansprechend besetzt. Die in künstlerischen Fragen bekanntermassen nicht sehr ausgeprägte Kompromissbereitschaft Chaillys wirkt sich bereits im zweiten Jahr nach seinem Amtsantritt spürbar positiv aus auf das musikalische Niveau an der Scala. Nur steht dem an diesem Abend leider wieder kein entsprechendes szenisches Niveau gegenüber.

Bebilderungskonzept

Alvis Hermanis verfolgt – wie schon in seiner unsäglich überladenen Salzburger «Liebe der Danae» vom Sommer – ein simples Bebilderungskonzept, das er offenkundig mit Texttreue verwechselt. In den Kostümen von Kristine Jurjane sieht das ungemein prachtvoll und sehr teuer aus. Auch die geschmackvollen, wenngleich erwartbaren Videoprojektionen japanischer Tuschezeichnungen auf den fahrbaren Wänden von Ciò-Ciò-Sans Haus schaffen durchaus Atmosphäre. Ins Innere der Figuren, vor allem in die Psyche der bedingungslos liebenden Frau, dringt Hermanis mit seinem nicht immer unfallfreien Balancieren auf der Kitschgrenze jedoch selten vor.

Erst als er in den letzten Minuten allen pseudorealistischen Kulissenplunder beiseiteräumt und mit Maria José Siri auf der Vorderbühne eine in den Bewegungen streng ritualisierte Sterbezene («Con onor muore») erarbeitet, stellt sich ein Anflug von Unmittelbarkeit und theatraler Wahrhaftigkeit ein. Das Mailänder Publikum nimmt es gelassen: Während es Chailly frenetisch feiert, ruft das Erscheinen des Regieteams um Hermanis keinerlei emotionale Regungen hervor. Früher war das die Höchststrafe für einen Künstler.