Im düsteren Ton verkündet der Chor der Trachinier, dass mit dem Tod des antiken Helden Hercules der Beschützer der Menschheit in das Reich der Götter aufgefahren ist: „Tyrants now no more shall dread“ – den Tyrannen auf Erden wird nun niemand mehr Einhalt gebieten. In Nigel Lowerys Inszenierung von Händels Hercules am Nationaltheater Mannheim steigt die Seele des für seine Stärke gerühmten Heros jedoch nicht im Zeichen Jupiters mit einem Adler in den Olymp der Götter auf, sie wird mit einer gerade gestarteten Rakete ins Weltall geschossen.

Die postmoderne Deutung des britischen Regisseurs, der die bei ihrer Uraufführung durchgefallene Tragödie in eine gotische Burgfestung zur Zeit des Mittelalters versetzt, entzündet am Premierenabend im lebendigen und dichten Barockklang des hauseigenen Orchesters ein Eifersuchtsdrama zwischen Hercules und seiner Gattin Dejanira. Unter der musikalischen Leitung von Bernhard Forck wurde spürbar, weshalb das 1745 am Londoner King’s Theatre am Haymarket erstmals konzertant gespielte Werk einen Höhepunkt in Händels dramatischem Gesamtwerk darstellt.

Gemeinsam mit seinem Librettisten, dem Geistlichen Thomas Broughton, widmet sich Georg Friedrich Händel nach Semele mit Hercules ein zweites Mal einer weltlichen Erzählung. Die mythische Sage vom Halbgott Herkules entnahm Broughton den Trachinierinnen des Sophokles sowie Ovids Metamorphosen. In ihr entwirft er ein im 18. Jahrhundert in staatspolitischen Belangen verbreitetes Ideal des griechischen Helden, der zum Ebenbild der Tugendhaftigkeit erwächst. Händels Hercules beschreibt die Heimkehr des Heroen, die von der Eifersucht Dejaniras überschattet ist und zur Tragödie einer am Wahnsinn Leidenden wird.

Als Raum für dieses düstere Seelendrama hat Nigel Lowery, der sich nicht allein für die Inszenierung, sondern auch für das Bühnenbild und die Kostüme verantwortet, ein dunkles Burggewölbe geschaffen. Unter den gotischen Spitzbögen entfesselt sich die anfängliche Angst um die Unversehrtheit des Helden zur an seiner Treue zweifelnden Ungewissheit. In der stimmungsvollen Beleuchtung von Lothar Baumgarte wird die schwankende Gefühlswelt seiner Gemahlin in einer Bildästhetik sichtbar, die an die frühen Buchillustrationen angelehnt ist. Der Unbeständigkeit ihrer Gemütslage entsprechend zitiert Lowery durch Schattenspiele an den hohen Wänden wie auch den aus der Barockzeit stammenden, offenen Kulissenbau die verschiedensten Theatertraditionen von der Antike bis in die Gegenwart. Zwischen mittelalterlichem Ritus wie dem Aderlass der Dejanira und einer symbolreichen Bildsprache der Renaissance – auf Hercules' Wams ist der von ihm bezwungene Nemeische Löwe gestickt – gelingt ihm auf eine sehr stille, unaufgeregte Art die szenischen Wiederbelebung des selten gespielten Werkes. Diese mündet im Tod des Helden. Hinter scharlachroten Vorhängen verbrennt er im vergifteten Gewand des Zentaur Nessos. Das Himmelbett wirkt wie eine klaffende Wunde, an der Dejanira in ihrer rasenden Eifersucht zugrunde geht.

Händel selbst hat Hercules als „A Musical Drama“ bezeichnet, denn obgleich der Priester des Jupiter Hercules' Sohn mit Iole vermählt, wird der glückliche Ausgang, der die repräsentative Dramaturgie der Oper kennzeichnet, unter den Trümmern der Ermordung des griechischen Heros und dem Wahnsinn Dejaniras begraben. Die Form des Oratoriums, in dessen Tradition der Chor Bedrohung und Verunsicherung über der Schlussszene schweben lässt, wird durch die in drei Akten angelegte Handlung durchbrochen. Hinzu kommt, dass Händel die Seelenzustände seiner Figuren, besonders die Affekte Dejaniras, seiner Zeit voraus sehr bestimmt ausgestaltet hat.

Im feinsinnigen Dirigat von Bernhard Forck wurden diese Gefühlswelten fassbar. Mit großer Plastizität schuf er mit dem Orchester des Mannheimer Nationaltheaters und einer hervorragenden Continuogruppe aus Cembali und Laute für das mittelalterliche Bilderreich einen veritablen Untergrund. Mit dynamischem Schwung ließ er in akzentuiertem Tempo die Verzweiflung Dejaniras hörbar werden, beschwor im Accompagnato-Rezitativ ihre Zweifel an Hercules herauf. Mit viel Gespür führte er den Chor des Nationaltheaters (Einstudierung: Dani Juris) und ließ mit dessen „Jealousy!“ den Wahnsinn in Dejanira eindringen.

Die Mezzosopranistin Mary-Ellen Nesi, die wie alle Solisten an diesem Premierenabend ihr Rollendebüt gab, lotete die Stimmungsschwankungen von Hercules' Gattin stimmlich aus und verlieh Dejanira in ihrem dramatisch vollen Timbre eine tiefe Tragik. Mit großer Intensität gestaltete sie die Arie „Where shall I fly“ und versank, nachdem sie ihren Gatten willentlich vergiftet hatte, in einem von Koloraturkaskaden gezeichneten Strudel. An ihrer Seite gab Thomas Berau mit kraftvollem Bariton zu „The god of battle quits the bloody field“ einen zunächst starken griechischen Heros, der nicht nur in den buffonesken Szenen überzeugte, sondern später auch blutüberströmt im mitleidigen, zitternden Ton mit lyrisch feinen Zügen tragisch zusammenbrach.

David Lee verlieh dessen Sohn Hyllus mit tenoralem Schmelz und großer Spiellust jugendliches Temperament, Eunju Kwon gestaltete die mädchenhafte Prinzessin Iole mit schlank geführtem Sopran. Neben Philipp Alexander Mehr als ansehnlicher Priester des Jupiter überraschte Ludovica Bello mit außergewöhnlich stilsicherer Stimme und natürlich wirkenden Koloraturen als Bote Lichas. Sie trug mit ihrem gut geführten Sopran zu einem wohl nuancierten Händelklang bei, der die zweite Premiere der Spielzeit zu einer gelungenen Wiederentdeckung eines im Opernrepertoire lange vernachlässigten Werkes werden ließ.

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