Leise rieselt der Schmäh

Die Regie von Matthias Hartmann ist einfallslos, die Sänger zeigen unterschiedliches Talent – aber die Leistung des Orchestre de la Suisse Romande unter Paolo Arrivabeni rettet die ganze Produktion.

Thomas Schacher, Genf
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Als schwindsüchtige Näherin Mimì singt die Georgierin Nino Machaidze etwas gar robust und energisch. (Bild: Carole Parodi / GTG)

Als schwindsüchtige Näherin Mimì singt die Georgierin Nino Machaidze etwas gar robust und energisch. (Bild: Carole Parodi / GTG)

Es ist kalt in der Mansarde. Die beiden jungen Männer Rodolfo und Marcello frieren. Dem Dichter stockt die Feder, dem Maler gefriert der Pinsel. Durch ein Loch im Dach rieseln Schneeflocken, auf dem Boden bildet sich ein kleiner Schneehaufen. Das Holz für den Ofen ist ausgegangen, weil es den beiden wieder einmal an Geld fehlt. In seiner Verzweiflung wirft Rodolfo sogar das Manuskript seines jüngst geschriebenen Stückes, eines feurigen Liebesdramas, in den Ofen, um wenigstens für einen Moment ein bisschen Wärme zu erzeugen. Da platzt der Musiker Schaunard mit Geld, Wein und Speisen, die er mit einer List erbeutet hat, in den Raum. Auf der Stelle bricht Party-Laune aus, und man beschliesst, den Rest des Heiligen Abends im nahe gelegenen Café Momus zu verbringen. Dort stossen dann zwei Frauen zur aufgekratzten Männerrunde, und das Unvermeidliche nimmt seinen Lauf.

Man könnte die berühmte Geschichte von den vier Bohémiens und den zwei Grisetten im Pariser Quartier Latin sehr kitschig inszenieren – viel hat Giacomo Puccinis Oper in dieser Hinsicht schon erdulden müssen. Zumindest diesem Fallstrick entgeht Matthias Hartmann, der die Neuproduktion von «La Bohème» am Genfer Grand Théâtre inszeniert. Was aber hat uns der Regisseur sonst noch zu sagen?

Bitte keine Experimente!

Man findet es bis zum Schluss nicht recht heraus. Die Inszenierung ist zwar solide gemacht, aber sie wagt vor lauter Nettigkeit nichts und ist vor allem im zweiten Teil derart einfallslos, dass man als Zuschauer gegen Schluss von Langeweile geplagt wird. Da wäre von dem Regisseur, den man in Zürich noch von seiner Zeit als Intendant des Schauspielhauses kennt und der am hiesigen Opernhaus eine spannende Inszenierung von Paul Hindemiths «Mathis der Maler» vorgelegt hat, doch weit mehr zu erwarten gewesen.

Natürlich sind die technischen Möglichkeiten im Provisorium der «Opéra des Nations» im Genfer Uno-Viertel beschränkt. Aber dieser Einheitsbrei und die Kargheit des von Raimund Orfeo Voigt verantworteten Bühnenbilds wären durchaus nicht zwingend.

Eine löbliche Ausnahme macht der turbulente zweite Akt. Das Café Momus als mehrstöckiges, mit Lichterketten behangenes Etablissement, wo sich Musetta von ihrem reichen Galan aushalten lässt und damit ihren Ex-Lover Marcello ärgert, hätte sich dabei perfekt für einen konsumkritischen Ansatz geeignet. Aber bei Weihnachtsproduktionen, die nicht zuletzt die Kasse füllen müssen, wünscht Intendant Tobias Richter – wie man sich am Beispiel des letztjährigen «Zauberflöte»-Eklats erinnert – bekanntlich keine Experimente.

Und Mimì, die weibliche Hauptfigur? In den Genfer «Bohème»-Aufführungen sind alle vier Hauptrollen doppelt besetzt. Bei der Premiere wird Mimì von Nino Machaidze gesungen, eine Rolle, die sie kürzlich für Los Angeles neu einstudiert hat. Für die Figur der zierlichen, schwindsüchtigen Stickerin ist der Charakter der Georgierin indes viel zu robust, und sie singt mit so viel Energie, dass ihr Tod in der Schlussszene reichlich unwahrscheinlich wirkt.

Den besten Eindruck der Premierenbesetzung macht der Ukrainer Dmytro Popov als Rodolfo. Mit seinem wohlklingenden, nie angestrengt wirkenden Tenor, seiner sympathischen Ausstrahlung und seiner Wandlungsfähigkeit hat er das erforderliche Rüstzeug für die Rolle des zuerst leidenschaftlichen, dann unglücklichen Liebhabers. Unterschiede gibt es auch beim komischen Paar der Oper. Julia Novikova passt für die Figur der luxussüchtigen Kokotte Musetta ausgezeichnet, stimmlich entspricht ihr etwas enger Sopran jedoch nicht den Erwartungen. Andrè Schuen gibt Marcello mit einem angenehmen Bariton, dürfte jedoch die dankbare Rolle des ausgeflippten Malers noch mehr akzentuieren. Den entscheidenden Grund zur Fahrt nach Genf bietet jedoch das Spiel des Orchestre de la Suisse Romande (OSR) unter der Leitung von Paolo Arrivabeni.

Das Orchester singt schöner

Der Chefdirigent der Opéra Royal de Wallonie in Liège ist ein Spezialist für das italienische Repertoire des 19. Jahrhunderts und dirigiert bereits zum vierten Mal in Genf. Arrivabeni bringt sowohl die lyrisch-sentimentalen als auch die buffonesken Seiten der «Bohème»-Partitur effektvoll zur Geltung. Er führt die Sängerinnen und Sänger mit sicherer Hand und stimmt die vokale und die instrumentale Ebene hervorragend aufeinander ab. Bei diesem Werk ist dies besonders wichtig, da Puccini die Protagonisten nicht selten in einer rezitativischen Art singen lässt, während er parallel die einprägsamen Melodien dem Orchester überantwortet.

Besonders eindrucksvoll gerät in dieser Hinsicht der vierte Akt, der zu grossen Teilen auf Erinnerungsmotiven aus den vorhergehenden Akten aufgebaut ist. Dramaturgisch (und musikalisch) nimmt Mimìs Sterbeszene in der Mansarde auf die erste Begegnung des Liebespaares zu Beginn der Oper Bezug. Bevor Mimì im letzten Duett zu ihrem «Fingevo di dormire» ansetzt, erklingt im Orchester das sentimentale Hauptthema, das bei Rodolfos Arie «O gelida manina» erstmals aufgeflammt war. Dank dieser instrumentalen Ebene erlebt der Zuhörer eine zusätzliche Dimension, die bei dieser Genfer Produktion besonders raffiniert herausgearbeitet wird.