Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Tom Schulze

Aktuelle Aufführungen

Wandel des Frauenbildes

TURANDOT
(Giacomo Puccini)

Besuch am
23. Dezember 2016
(Premiere am 22. Oktober 2016)

 

 

Oper Leipzig

Gut zwei Jahre nach der grandiosen Premiere der Richard-Strauss-Oper Die Frau ohne Schatten ist das Regieteam dieser Produktion unter Balázs Kovalik wieder nach Leipzig gekommen, diesmal für Puccinis letzte Oper Turandot, die er durch seinen frühzeitigen Krebstod nicht mehr vollenden konnte und aus dessen Fragmenten Franco Alfano den Schluss zusammenfügte, vom Dirigenten der Uraufführung, Arturo Toscanini, noch einmal redigiert und zusammengestrichen. Nachdem an einigen Häusern in der Vergangenheit die Oper ohne den Alfano-Schluss gegeben wurde, wird in Leipzig vierzig Jahre nach der letzten Inszenierung das Werk in der bekannten Fassung auf die Bühne gebracht. Kovalik verlässt die gängigen Pfade der Märchenoper und skizziert ein anderes Frauenbild der beiden Hauptprotagonistinnen Turandot und Liù als allgemeinhin üblich. Dabei verändert er auch das gesellschaftliche Umfeld und den historischen Kontext eines China vor dreitausend Jahren, ohne den Handlungsrahmen grundlegend zu ändern.

Das Kaiserreich ist in Lethargie erstarrt. Ursache ist die eiskalte Prinzessin Turandot, die sich durch ein selbst auferlegtes Gelübde jedem entzieht, der um sie wirbt. Es ist die traumatische Erinnerung an ihre Urahnin, die grausam missbraucht wurde und deren Leiden sie rächen will, rächen an den Männern, die ihr zu nahe treten wollen. Nur wer ihre geheimnisvollen drei Rätsel zu lösen imstande ist, erhält ihre Hand. Wer die Lösung nicht weiß, wird öffentlich hingerichtet. Das Volk als unterdrückte Masse ist ebenso paralysiert von der geheimnisvollen Ausstrahlung der Prinzessin wie sensationslüstern nach der nächsten öffentlichen Hinrichtung. Ein unbekannter Prinz, der fasziniert ist von dieser mysteriösen Frau, ist der nächste, der seinen Kopf wagt. Er ignoriert die Warnungen seines Vaters Timur, der gemeinsam mit der Sklavin Liù im Kaiserreich gefangen gehalten wird, und stellt sich der Herausforderung. Doch nachdem er die drei Rätsel gelöst hat, weigert sich die Prinzessin, ihm zu folgen, obwohl sie einen heiligen Eid geschworen hat. Sie fühlt sich erniedrigt und bittet den Fremden zu gehen. Doch der Unbekannte will sie nicht besiegen, er will ihre Liebe gewinnen, legt daher erneut sein Leben in die Hände der Prinzessin und gibt ihr umgekehrt das Rätsel nach seinem Namen auf. Eine ganze Nacht lang hat das Volk Zeit, um den Namen des unbekannten Prinzen herauszufinden: „Nessun dorma“.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

In der letzten Oper Puccinis, dessen Werke immer durch ganz konkrete Milieus
geprägt waren, hat er eine Märchenhandlung zugrunde gelegt. Doch hinter der Schablone des Märchens skizziert er ein vollkommen neues Rollenbild. Stellvertretend für die Opernheldin des 19. Jahrhunderts lässt Puccini die Sklavin Liù den freiwilligen Opfertod für den Mann sterben. Im entscheidenden Moment ist sie nicht bereit, den Namen des Prinzen zu verraten. Auf der anderen Seite erleben wir Turandot und Calafnach den überstandenen Prüfungen als verwandelte Menschen. Vom Dunkel ins Licht, von der Nacht zum Tag, das ist die Metaphorik, die die Oper auch musikalisch durchzieht, und die thematisch auch an Wagners Tristan und Isolde erinnert. Sie wechselt von düsterer Beklommenheit zu orgiastischer Emphase, von unterdrückter Sehnsucht nach Liebe zu überbordender Strahlkraft.

Foto © Tom Schulze

Regisseur Kovalik hat die Geschichte der eiskalten chinesischen Prinzessin Turandot mit eindrucksvollen stilistischen Mitteln umgesetzt. Der Kontrast zwischen Kälte und Wärme, zwischen Hass und Liebe, ja, zwischen Tod und Leben wird vor allem optisch dargestellt. In seiner Wahrnehmung handelt die Oper von einer Gesellschaft, die zwischen Tradition und Selbstbestimmung schwankt. Um den inneren Kontrast der Figuren noch stärker hervorzuheben, verlegt Kovalik die Geschichte an einen fiktionalen Ort, jedoch nicht in die klassische, farbenprächtige Märchenwelt eines alten Chinas. „Es ist mehr ein allegorischer Ort als ein Märchen, kein wirkliches China. Es ist eine sterile Welt, fast wie in einem klinischen Labor“, sagt Kovalik über seinen thematischen Ansatz.  Die Figur der Turandot sieht er nicht als Kaiserin oder Herrscherin, sondern eher umgekehrt, als Tochter des Kaisers, die sich emanzipieren will. Für Kovalik ist Puccinis Oper eine Art Unabhängigkeitserklärung der Frau. Eine Prinzessin, die ihr Herz verschließt, aber dann doch von einem Prinzen erobert wird, das klingt wie ein Märchen. Am Ende siegt die Liebe, und alle sind glücklich. Was aber, wenn diese Liebe im gesellschaftlichen Kontext den Verlust der Freiheit bedeutet? Denn so sieht Turandot die Welt. Sie lehnt die Weiblichkeit ab und verneint dadurch die traditionelle Rolle der Frau. Sie will selbstbestimmt leben, doch macht sie das deshalb kaltherzig?  „Wenn nur der Kuss sie auftauen und lieben lässt, dann ist das ein Märchen wie Froschkönig und nicht wie echte Menschen“, sagt Kovalik.  Deshalb glaubt der Regisseur nicht daran, dass sie wirklich so kaltherzig ist. „Wir wollen über menschliche Begegnungen reden“, erst mal, dass Turandot sich selbst entdeckt. Während die Liebe für Turandot ein Gefängnis darstellt, sieht die Sklavin sie als Freiheit an, selbst im Moment ihres Todes. „Die moderne Frau muss sich nicht aufopfern, kann ‚Nein‘ zu einer Beziehung sagen“.

Von dieser Emanzipation sind die drei Minister Ping, Pang und Pong weit entfernt. Sie sehnen sich zurück nach der Zeit von Turandots Vorfahren, wo alles einfacher war und die Frau nichts zu sagen hatte. Sie sind korrupt und versuchen, die Dinge zu ihren Gunsten zu wenden. Sie verschaffen dem Prinzen einen unfairen Vorteil, indem sie ihm die Kugeln zeigen, die die Lösungen der drei Rätsel beinhalten.  Offen bleibt am Ende jedoch die Frage, wie Turandot mit der neu entdeckten Liebe umgehen wird, hat Liù ihr doch deutlich gemacht, dass Liebe auch Stärke bedeutet. Ein wichtiger Bestandteil der Handlung ist das Volk, dargestellt vom Opernchor. Er spiegelt den traditionellen Aspekt wider, Veränderungen nicht wirklich offen gegenüber, sich insgeheim aber doch nach einer besseren Welt sehnend. „Ein Volk ändert seine Meinung stark emotional, nicht intellektuell“. Die Widersprüchlichkeit einer Gesellschaft wird hier laut Kovalik sehr essenziell gezeigt. Seine Personenregie zielt genau auf diesen Konflikt ab, der von den Protagonisten in konsequenter Form umgesetzt wird. Ein Volk, das sich selbst an den Opfern berauscht und neue Opfer fordert.

Das Bühnenbild von Heike Scheele zeigt einen futuristischen Bau in Wabenstruktur, der keinen Platz für Gefühle zulässt. Es ist eine Art Metropolis, wo die Menschen einerseits kleine Löcher zum Leben haben, andererseits die sechseckige Struktur eine enorme Stabilität symbolisiert. Es ist der Hort emotionaler Kälte, eines diktatorischen und unterdrückenden Systems. Lediglich das Terzett der drei Minister zu Beginn des zweiten Aufzuges zeigt ein chinesisches Badehaus mit Teezeremonie, bunt mit Lampions, als Kontrast des Traditionellen zur neuen Welt. Passend dazu ist das chinesische Volk in einheitliche schwarze Overalls gekleidet, eine uniforme Masse, während die Staatsdiener futuristisch anmutende Raumanzüge wie aus einem modernen Science-Fiction-Film tragen. Während Turandot mit einem roten Blazer imponiert, erscheint der fremde Prinz in strahlendem Weiß, sein Vater Timur und die Sklavin Liù dagegen in warmen Grüntönen unter der schwarzen Montur. Sebastian Ellrich hat die Kostüme entworfen. Das von Michael Röger inszenierte Lichtdesign unterstreicht dabei die emotionalen Kontraste.

Mit einem außergewöhnlichen Sängerensemble besticht die Oper Leipzig an diesem Abend und macht die Aufführung zu einem besonderen Erlebnis. Allen voran Jennifer Wilson, die in dieser Rolle ihr Operndebüt gab, als Turandot an der Metropolitan Opera New York reüssierte und zuletzt in Bayreuth als Sieglinde begeisterte, ist derzeit das Nonplusultra bei der Besetzung der Rolle.  Sie überzeugt schauspielerisch und gesanglich in jeder Facette der Partie. Mit ihrem strahlkräftigen, hochdramatischen Sopran und ihren glasklaren, schneidenden Höhen wird die Eiseskälte ihrer Prinzessin förmlich hör- und spürbar. Ihre Auftrittsarie In questa reggia und die drei Rätselfragen lassen die Temperatur im Opernhaus förmlich sinken. Die Verwandlung zur liebenden Frau am Schluss vermag ihr bei aller stimmlichen Perfektion vom Ausdruck her nicht ganz zu gelingen, aber das wollte der Regisseur auch nicht. Herausragend an diesem Abend auch der junge Tenor Leonardo Caimi als Calaf. Seine schöne Stimme besticht durch ein warmes, baritonales Timbre, und seine leuchtenden und durchdringenden Höhen setzen sich mühelos und ohne Kraftverlust gegen das Fortissimo im Orchester durch. Sein Nessun dorma braucht keinen Vergleich zu den bekannten Aufnahmen großer Tenöre zu scheuen, und auch die Ausdruckskraft seines Spiels überzeugt.

Die lyrische Sopranistin und Leipzigs Publikumsliebling Olena Tokar überzeugt vor allem durch eine sehr saubere Stimmführung und wunderbare Piano-Töne. Ihre Arie Signore, ascolta im ersten Akt singt sie mit großer Innigkeit, während sie die dramatischen Ausbrüche in ihrer Schlussszene mit großer Leidenschaft gibt. Dabei ist so viel Wärme und Anmut in ihrer Stimme und in ihrem Spiel, dass die große emotionale Berührung auch auf das Publikum übergeht.

Für große Nachhaltigkeit sorgen Jonathan Mitchie als Ping, Sergei Pisarev als Pong und Keith Boldt als Pang. Die drei Minister werden hier als korrupte Opportunisten dargestellt, die durch ihr hintergründiges Spiel begeistern. In ihrem großen Terzett zu Beginn des zweiten Aktes dürfen sie ihrem traditionellen Wesen nachgeben und offenbaren ihre tiefen Sehnsüchte nach der Heimat und einer besseren Vergangenheit. Musikalisch ist das Terzett bewegend gesungen, die drei Stimmen harmonieren dabei auf das Beste. Randall Jakobsh singt und spielt den blinden Timur mit balsamischem Bass, seine Erschütterung nach dem Tode Liùs ist ein bewegender Moment an diesem Abend. Martin Petzold als irre gewordener Kaiser Altoum und der markante Sejong Chan als Mandarin runden ein außergewöhnliches Sängerensemble an diesem Abend ab.

Herausragend der von Alessandro Zuppardo und Sophie Bauer perfekt einstudierte Opern- und Kinderchor. Sie meistern nicht nur alle musikalischen Herausforderungen des Abends mit großer Bravour, sondern geben durch ein sehr intensives Spiel, das teilweise an die Grenzen geht, der Inszenierung eine besondere Note und werden am Ende zu Recht mit großem Jubel bedacht.

Auch musikalisch ist der Abend auf höchstem Niveau. Das Leipziger Gewandhausorchester verdient größtes Lob für sein mitreißendes und präzises Spiel. Ein Sonderlob gehört den Bläsern, die durch ihre sauberen Einsätze der musikalischen Dramatik einen besonderen Akzent verleihen. Matthias Foremny leitet das Orchester engagiert, mit großer Dynamik und Präzision. Und er besitzt den Mut, die wenigen lyrischen, anrührenden Momente der Partitur zuzulassen, so dass der emotionale Funke vom Orchestergraben auf das Ensemble und das Publikum überspringen kann – mit viel Gänsehautfeeling.

Dem Publikum wird einiges zugemutet, sei es das Übergießen einer entblößten Frau mit Blut als symbolische Opferung oder die allegorische Darstellung des Prinzen von Persien als zwölfjährigem Knaben, der von einem überdimensionierten Rotor getötet wird, um dann schicksalsschwanger den unbekannten Prinzen immer wieder auf seinem Weg zum Sieg zu begleiten. Doch sein Sieg ist zu teuer erkauft, vielleicht hat der opfernde Selbstmord der Sklavin Liù dem Prinzen die Augen geöffnet. Am Schluss verschwindet er im Freudentaumel der Masse, und der diktatorische und irre gewordene Kaiser Altoum hängt tot über dem Geländer. Turandot hat zu sich selbst gefunden, ist bereit für einen neuen Weg, den sie alleine gehen muss, ohne Calaf. Und das Volk ist befreit von den Fesseln des Staates, die vielleicht freudigste Botschaft des Abends, das dem Publikum kein Happy-End beschert, auch kein halbes. Und obwohl es sicher keine leichte Kost ist, die das Regieteam um Balázs Kovalik dem Leipziger Publikum vorsetzt, wird die Inszenierung mit großem Enthusiasmus aufgenommen, mit großem Jubel für Jennifer Wilson, Leonardo Caimi, Olena Tokar und für Chor und Orchester. Eine Inszenierung, nach der man nicht so einfach zur Tagesordnung übergehen kann, über die man noch länger sprechen wird und die eine große Lücke im Repertoire der Oper Leipzig schließt.

Andreas H. Hölscher