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Künstlerin auf SelbstfindungskursVon Stefan Schmöe / Fotos von Bettina Stöß
Eine moderne Oper mit Repertoiretauglichkeit? Nach der Uraufführung in einer zweiten Inszenierung gespielt zu werden, das ist bei Werken des zeitgenössischen Musiktheaters ja keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Entstanden ist Charlotte Salomon für die Salzburger Festspiele und dort 2014 uraufgeführt worden (unsere Rezension), jetzt folgt die Bewährungsprobe an einem Stadttheater. Die moderat moderne Musiksprache mit geradezu impressionistischen Klangflächen auf der einen, expressiven Gesangslinien auf der anderen Seite kommt dem Werk sicher ebenso zugute wie das Sujet, das in die bundesrepublikanische Erinnerungskultur passt. Charlotte Salomon, 1917 als Tochter eines jüdischen Arztes in Berlin geboren, flüchtete 1939 vor den Nazi-Regime zu den Großeltern nach Südfrankreich und begann, ihre Lebensgeschichte zu malen, auf mehr als 800 Blättern, eine sprunghafte, teilweise beinahe comicartige Bildergeschichte. Was dabei Realität und was Fiktion ist, wird nicht immer klar, bereits der Titel Leben? Oder Theater? deutet auf fließende Grenzen hin. Charlotte Salomon, die Malerin, erschafft sich eine Kunstwelt
Sie gibt den Figuren „sprechende“ Phantasienamen, wird selbst zu „Charlotte Kann“, die bewunderte Stiefmutter, eine erfolgreiche Opernsängerin, wird zu „Paulinka Bimbam“, deren forsch-jugendlicher Gesangslehrer (in den sich Charlotte verliebt und mit dem sie – vielleicht – eine kurze Affäre hatte) zu „Amadeus Daberlohn“. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Biographie führt auch zu der Erkenntnis, dass in der Familie ein Hang zur Depression vorliegt; sie erfährt, dass ihre Mutter nicht an einer Grippe, sondern durch Suizid gestorben ist wie mehrere andere Vorfahren auch, und in ihrer Gegenwart stürzt sich die Großmutter aus dem Fenster. Das alles findet seinen Niederschlag in der gemalten Biographie. Als deutsche Truppen Frankreich besetzten, vertraute Charlotte die Blätter einem befreundeten Arzt an, ihr Schicksal ahnend: Sie wurde nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Bildgewaltig: Der Tod der Mutter
Die Gefahr, in Charlotte Salomon in erster Linie das Opfer des Nazi-Terrors zu sehen und nicht die originelle Künstlerin, liegt natürlich in der Luft. In Bielefeld blendet Regisseurin Mizgin Bilmen den zeitgeschichtlichen Aspekt weitgehend aus – Hakenkreuze bekommt man nicht zu sehen. Das ist keinesfalls eine Verkürzung, präsent ist der Kontext sowieso (und in einigen Szenen wird er durch Text und Handlung konkret deutlich). Vielmehr setzt die Regie auf die Spannung zwischen der realen Charlotte und der Kunstfigur, die sie erschafft. Ohnehin ist die Rolle aufgeteilt auf eine Schauspielerin und eine Sängerin. Luc Bondy hatte beide optisch verschmolzen, im gleichen Kostüm fast ununterscheidbar werden lassen. Bei Mizgin Bilmen ist zunächst gerade der Gegensatz betont, Schauspielerin Jana Kunze ist im weißen Kittel die Realfigur, die alle anderen Figuren (auch ihr alter ego in Blautönen) erschafft. Erst in der zweiten Hälfte findet ein subtiler Verschmelzungsprozess statt, bei dem die Kunstfigur immer lebendiger, realer wird. Jana Schulze und Sopranistin Hasti Molavian (mit nicht sehr großer, aber zupackend geführter Stimme) spielen das mit beeindruckender Genauigkeit. Charlotte salomon und die Kunstfigur Charlotte Kann. Hinten Amadeus Daberlohn.
Die zweite wichtige Entscheidung betrifft den Umgang mit den Bildern selbst. Bondy hatte in der absurd großen Salzburger Felsenreitschule eine Art Setzkasten gebaut, in den ausgewählte Originalbilder projiziert wurden, sodass die Bildwelten von Leben? Oder Theater? sozusagen durchwandert wurden. Mizgin Bilmen und ihr kongeniales Ausstatterteam (Bühne: Cleo Niemeyer, Kostüme: Alexander Djurkov Hotter, Video: Malte Jehmlich ) versuchen stärker, eine Distanz dazu aufzubauen. Auf mehreren Ebenen werden immer wieder Gemälde Charlotte Salomons eingeblendet, oft in Ausschnitten oder verfremdet, selten wirklich dominant, aber der ästhetische Rahmen wird dadurch gesetzt (kaum jemand im Publikum wird Charlotte Salomons Bilder kennen, weshalb dieser Bezugsrahmen erst einmal notwendig ist). Alle Figuren, die sich die „reale“ Charlotte erschafft, sind stilisiert den Bildern nachempfunden, puppenhaft mit Frisuren aus Gummi und überdeutlich markierten Bügelfalten, die sie steif erscheinen lassen. Sie agieren wie dem Bild entsprungene Kunstgestalten. Auch hier ist die Personenregie durchweg exzellent (und ebenso gut umgesetzt) und er feine Grat getroffen, die Figuren im ziemlich abstrakten Bühnenbild unwirklich, aber nicht leblos erscheinen zu lassen, sodass das Konzept aufgeht, ohne zu ermüden. Wird immer lebendiger: Charlotte Kann, alter ego der Charlotte Salomon
So zeigt die kluge Inszenierung eine Geschichte von Selbstfindung und Selbstvergewisserung durch Kunst, die viele Assoziationen zulässt, ohne das Publikum zu bevormunden. Auch das allerdings kann die Schwächen des Werkes nicht völlig überspielen, etwa den episodische Charakter der Oper, die in einem ziemlich schwach motivierte Finale ausläuft, in dem Charlotte ihren Großvater vergiftet (es gibt vage, von der Regie nicht aufgegriffene Andeutungen über sexuelle Zudringlichkeiten). Die Produktion ist aber nicht nur sehens-, sondern auch hörenswert. Die ebenso klangschönen wie energisch aufspielenden Bielefelder Philharmoniker treffen unter Leitung ihres Generalmusikdirektors Alexander Kalajdzic ganz hervorragend den vibrierenden und oft sinnlichen Tonfall der Musik von Marc-André Dalbavie, und Kalajdzic gelingt es gut, die etlichen mehr oder weniger verfälschten Zitate (die entsprechenden Hinweisen in Leben? Oder Theater? folgen) in den musikalischen Fluss einzubauen. Aus dem sehr guten Ensemble ragt Daniel Pataky mit schwärmerischem, großformatigem Tenor als Amadeus Daberlohn heraus. Nohad Becker macht mit warmem Alt als Charlottes Stiefmutter (laut Libretto immerhin eine herausragende Sängerin, nicht einfach für die Darstellerin) ihre Sache ordentlich, ebenso Evgueniy Alexiev als ihr Vater. Für die erkrankte Katja Starke, die nur spielen konnte, sang Franziska Rabl die nicht sehr große Partie der Mutter souverän von der Seite aus.
In dieser szenisch wie musikalisch ausgezeichneten Produktion kann sich Charlotte Salomon durchaus im Stadttheater-Repertoire behaupten. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Inszenierung
Bühne
Kostüme
Video
Chor
Dramaturgie
Solisten
Charlotte Salomon
Charlotte Kann
Doktor Kannn, ein Arzt
Franziska Kann / Eine Frau
Paulinka Bimbam
Amadeus Daberlohn, ein Gesangspädagoge
Herr Knarre / Lageroberst
Frau Knarre
Professor Klingklang / Ein Kunststudent
Der Propagandaminister /
Eine Kunststudentin aus Tirol /
Pabst / Kunstprofessor
Polizist
1. Emigrant
Vier Nazis
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