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Charlotte Salomon

Oper in zwei Akten mit einem Vorspiel und einem Nachwort
Libretto von Barbara Honigmann nach Leben? oder Theater? von Charlotte Salomon
Übertragung ins Französische von Johannes Honigmann
Musik von Marc-André Dalbavie


in französischer und deutscher Sprache mit deutschen Übertiteln

Aufführungsdauer: ca. 2h 40' (eine Pause)

Deutsche Erstaufführung im Opernhaus Bielefeld am 14. Januar 2017
(rezensierte Aufführung: 19. Januar 2017)


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Theater Bielefeld
(Homepage)

Künstlerin auf Selbstfindungskurs

Von Stefan Schmöe / Fotos von Bettina Stöß


Eine moderne Oper mit Repertoiretauglichkeit? Nach der Uraufführung in einer zweiten Inszenierung gespielt zu werden, das ist bei Werken des zeitgenössischen Musiktheaters ja keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Entstanden ist Charlotte Salomon für die Salzburger Festspiele und dort 2014 uraufgeführt worden (unsere Rezension), jetzt folgt die Bewährungsprobe an einem Stadttheater. Die moderat moderne Musiksprache mit geradezu impressionistischen Klangflächen auf der einen, expressiven Gesangslinien auf der anderen Seite kommt dem Werk sicher ebenso zugute wie das Sujet, das in die bundesrepublikanische Erinnerungskultur passt. Charlotte Salomon, 1917 als Tochter eines jüdischen Arztes in Berlin geboren, flüchtete 1939 vor den Nazi-Regime zu den Großeltern nach Südfrankreich und begann, ihre Lebensgeschichte zu malen, auf mehr als 800 Blättern, eine sprunghafte, teilweise beinahe comicartige Bildergeschichte. Was dabei Realität und was Fiktion ist, wird nicht immer klar, bereits der Titel Leben? Oder Theater? deutet auf fließende Grenzen hin.

Szenenfoto

Charlotte Salomon, die Malerin, erschafft sich eine Kunstwelt

Sie gibt den Figuren „sprechende“ Phantasienamen, wird selbst zu „Charlotte Kann“, die bewunderte Stiefmutter, eine erfolgreiche Opernsängerin, wird zu „Paulinka Bimbam“, deren forsch-jugendlicher Gesangslehrer (in den sich Charlotte verliebt und mit dem sie – vielleicht – eine kurze Affäre hatte) zu „Amadeus Daberlohn“. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Biographie führt auch zu der Erkenntnis, dass in der Familie ein Hang zur Depression vorliegt; sie erfährt, dass ihre Mutter nicht an einer Grippe, sondern durch Suizid gestorben ist wie mehrere andere Vorfahren auch, und in ihrer Gegenwart stürzt sich die Großmutter aus dem Fenster. Das alles findet seinen Niederschlag in der gemalten Biographie. Als deutsche Truppen Frankreich besetzten, vertraute Charlotte die Blätter einem befreundeten Arzt an, ihr Schicksal ahnend: Sie wurde nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.

Szenenfoto

Bildgewaltig: Der Tod der Mutter

Die Gefahr, in Charlotte Salomon in erster Linie das Opfer des Nazi-Terrors zu sehen und nicht die originelle Künstlerin, liegt natürlich in der Luft. In Bielefeld blendet Regisseurin Mizgin Bilmen den zeitgeschichtlichen Aspekt weitgehend aus – Hakenkreuze bekommt man nicht zu sehen. Das ist keinesfalls eine Verkürzung, präsent ist der Kontext sowieso (und in einigen Szenen wird er durch Text und Handlung konkret deutlich). Vielmehr setzt die Regie auf die Spannung zwischen der realen Charlotte und der Kunstfigur, die sie erschafft. Ohnehin ist die Rolle aufgeteilt auf eine Schauspielerin und eine Sängerin. Luc Bondy hatte beide optisch verschmolzen, im gleichen Kostüm fast ununterscheidbar werden lassen. Bei Mizgin Bilmen ist zunächst gerade der Gegensatz betont, Schauspielerin Jana Kunze ist im weißen Kittel die Realfigur, die alle anderen Figuren (auch ihr alter ego in Blautönen) erschafft. Erst in der zweiten Hälfte findet ein subtiler Verschmelzungsprozess statt, bei dem die Kunstfigur immer lebendiger, realer wird. Jana Schulze und Sopranistin Hasti Molavian (mit nicht sehr großer, aber zupackend geführter Stimme) spielen das mit beeindruckender Genauigkeit.

Szenenfoto

Charlotte salomon und die Kunstfigur Charlotte Kann. Hinten Amadeus Daberlohn.

Die zweite wichtige Entscheidung betrifft den Umgang mit den Bildern selbst. Bondy hatte in der absurd großen Salzburger Felsenreitschule eine Art Setzkasten gebaut, in den ausgewählte Originalbilder projiziert wurden, sodass die Bildwelten von Leben? Oder Theater? sozusagen durchwandert wurden. Mizgin Bilmen und ihr kongeniales Ausstatterteam (Bühne: Cleo Niemeyer, Kostüme: Alexander Djurkov Hotter, Video: Malte Jehmlich ) versuchen stärker, eine Distanz dazu aufzubauen. Auf mehreren Ebenen werden immer wieder Gemälde Charlotte Salomons eingeblendet, oft in Ausschnitten oder verfremdet, selten wirklich dominant, aber der ästhetische Rahmen wird dadurch gesetzt (kaum jemand im Publikum wird Charlotte Salomons Bilder kennen, weshalb dieser Bezugsrahmen erst einmal notwendig ist). Alle Figuren, die sich die „reale“ Charlotte erschafft, sind stilisiert den Bildern nachempfunden, puppenhaft mit Frisuren aus Gummi und überdeutlich markierten Bügelfalten, die sie steif erscheinen lassen. Sie agieren wie dem Bild entsprungene Kunstgestalten. Auch hier ist die Personenregie durchweg exzellent (und ebenso gut umgesetzt) und er feine Grat getroffen, die Figuren im ziemlich abstrakten Bühnenbild unwirklich, aber nicht leblos erscheinen zu lassen, sodass das Konzept aufgeht, ohne zu ermüden.

Szenenfoto

Wird immer lebendiger: Charlotte Kann, alter ego der Charlotte Salomon

So zeigt die kluge Inszenierung eine Geschichte von Selbstfindung und Selbstvergewisserung durch Kunst, die viele Assoziationen zulässt, ohne das Publikum zu bevormunden. Auch das allerdings kann die Schwächen des Werkes nicht völlig überspielen, etwa den episodische Charakter der Oper, die in einem ziemlich schwach motivierte Finale ausläuft, in dem Charlotte ihren Großvater vergiftet (es gibt vage, von der Regie nicht aufgegriffene Andeutungen über sexuelle Zudringlichkeiten).

Die Produktion ist aber nicht nur sehens-, sondern auch hörenswert. Die ebenso klangschönen wie energisch aufspielenden Bielefelder Philharmoniker treffen unter Leitung ihres Generalmusikdirektors Alexander Kalajdzic ganz hervorragend den vibrierenden und oft sinnlichen Tonfall der Musik von Marc-André Dalbavie, und Kalajdzic gelingt es gut, die etlichen mehr oder weniger verfälschten Zitate (die entsprechenden Hinweisen in Leben? Oder Theater? folgen) in den musikalischen Fluss einzubauen. Aus dem sehr guten Ensemble ragt Daniel Pataky mit schwärmerischem, großformatigem Tenor als Amadeus Daberlohn heraus. Nohad Becker macht mit warmem Alt als Charlottes Stiefmutter (laut Libretto immerhin eine herausragende Sängerin, nicht einfach für die Darstellerin) ihre Sache ordentlich, ebenso Evgueniy Alexiev als ihr Vater. Für die erkrankte Katja Starke, die nur spielen konnte, sang Franziska Rabl die nicht sehr große Partie der Mutter souverän von der Seite aus.


FAZIT

In dieser szenisch wie musikalisch ausgezeichneten Produktion kann sich Charlotte Salomon durchaus im Stadttheater-Repertoire behaupten.


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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Alexander Kalajdzic

Inszenierung
Mizgin Bilmen

Bühne
Cleo Niemeyer

Kostüme
Alexander Djurkov Hotter

Video
Malte Jehmlich

Chor
Hagen Enke

Dramaturgie
Jón Philipp von Linden


Bielefelder Opernchor

Bielefelder Philharmoniker


Solisten

Charlotte Salomon
Jana Schulze

Charlotte Kann
Hasti Molavian

Doktor Kannn, ein Arzt
Evgueniy Alexiev

Franziska Kann / Eine Frau
Katja Starke (spielt)
Franziska Rabl (singt)

Paulinka Bimbam
Nohad Becker

Amadeus Daberlohn, ein Gesangspädagoge
Daniel Pataky

Herr Knarre / Lageroberst
Olaf Haye

Frau Knarre
Evelyn Krahe

Professor Klingklang / Ein Kunststudent
Caio Monteiro

Der Propagandaminister /
Ein Mann / 2. Emigrant
Lianghua Gong

Eine Kunststudentin aus Tirol /
Herbergswirtin
Dorine Mortelmans

Pabst / Kunstprofessor
Dumitru-Bogdan Sandu

Polizist
Paata Tsivtsivadze

1. Emigrant
Mark Coles

Vier Nazis
Dumitru-Bogdan Sandu
In Kwon Choi
Paata Tsivtsivadze
Mark Coles



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Da capo al Fine

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