Opéra de Lyon: Johanna, der wahnsinnige Schulwart

Mystizismus 2017: Die alte Jeanne legt die junge (Audrey Bonnet) ins selbstgeschaufelte Grab.
Mystizismus 2017: Die alte Jeanne legt die junge (Audrey Bonnet) ins selbstgeschaufelte Grab.(c) Stofleth/Oper Lyon
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Romeo Castellucci verweigert Paul Claudel und Arthur Honegger die Gefolgschaft und zeigt zur Musik von „Jeanne d'Arc au bûcher“ die Hochleistungsschau einer armen Irren, die sich splitternackt im Schulzimmer ihr Grab gräbt.

Es passt alles zusammen. „Wer Visionen hat, braucht einen Arzt“, meinte vor Zeiten ein österreichischer Bundeskanzler. Dessen Erben schicken sich gerade an, eine ihnen genehme Art der Kulturrevolution vorzubereiten. Währenddessen signalisiert die Kunst uns allenthalben, dass die Psychoanalyse längst die Deutungshoheit über alle Fragen übernommen hat, die den Menschen jenseits dessen, was der Durchschnittsbürger als normal empfindet, betreffen. Das sind viele, wie wir wissen; aber sie werden bald alle über ein und denselben Kamm geschoren. Die letzten Fragen sind alle längst geklärt; wir müssen das nur endlich begreifen. Dabei helfen uns Regisseure wie der allseits hochgelobte Romeo Castellucci, der sich nun in Lyon die „Johanna auf dem Scheiterhaufen“ vorgenommen hat. Oder vielmehr: Er hat sie sich gar nicht vorgenommen. Er signalisiert seinem Publikum, es lohne sich nicht, sich mit einem Werk wie diesem mystischen Oratorium von Paul Claudel und Arthur Honegger näher zu beschäftigen.

Text und Musik dienen stattdessen als Geräuschkulisse zu einem aberwitzigen Trainingsprogramm für eine grandiose Sportlerin namens Audrey Bonnet. Sie betritt zunächst in Gestalt eines Schulwarts ein Klassenzimmer, das soeben von kreischenden Backfischen verlassen wurde, räumt Tische und Sessel in einer Berserkeraktion auf den Gang, verbarrikadiert sich, um sich dann in einem wahren Veitstanz zu entkleiden und im Parkettboden ein riesiges Grab zu schaufeln. Der Schulwart ist also eine Dame, deren androgyne, durchtrainierte Gestalt das Einzige ist, was von fern an die Aufführungsgeschichte jenes Werks erinnert, das auf dem Programmzettel steht.

„Jeanna d'Arc au bûcher“ wurde Ende der Dreißigerjahre in Basel von Ida Rubinstein aus der Taufe gehoben, die an Gestalt ähnlich anzuschauen gewesen sein dürfte wie Bonnet; nur dass sie sich damals nicht zeigen durfte, wie Gott sie schuf; und schon gar nicht in anzüglichen Bewegungen die religiösen Ekstasen der heiligen Johanna illustriert hätte.
Dergleichen bleibt unserer Zeit vorbehalten und dem Assoziationswillen des Publikums, das sich einen Reim darauf machen muss, was die in jeder Hinsicht atemberaubenden athletischen Übungen der Heldin des Abends mit Honeggers Musik und Claudels Text zu tun haben könnten, der ja immerhin via Übertitel mitzulesen ist.

Zu hören ist er nicht immer gut, denn sämtliche Stimmen, die des Chors, der Gesangssolisten, aber auch der Schauspieler werden via Lautsprecher übermittelt. Auch jene der Johanna/des Schulwarts als auch jene von Denis Podalydès, der den Part des Bruder Dominik spricht, aber statt weißer Kutte und schwarzem Mantel einen braunen Anzug trägt – vielleicht ist er der Schuldirektor; er beobachtet jedenfalls bis zum Eintreffen der Polizei das gespenstische Geschehen durch den Türspalt.

Die Selbstauslöschung der Hauptdarstellerin zeigt einige starke Bilder, vor allem dort, wo die wenigen Versatzstücke ins Spiel kommen, die an die Jungfrau von Orléans erinnern, die Tricolore, das (tote) Pferd, das Schwert. Dieses vor allem wird zum schweren Kreuz, das die völlig entblößte arme Seele zu tragen hat.

Und kein Schweißtuch, das ihr gereicht würde. Christliche Symbole fallen ja unter die kurierbaren einschlägigen Symptome – wie wohl Paul Claudels gesamter Text, den Honegger so eindrucksvoll polystilistisch vertont hat; expressiv vor allem in den Momenten der übersinnlichen Erscheinungen.

Katholischer Mystizismus ade

Wo in äußerster Hingabe sich die Schmerzen des Feuertods in die Erlösung der göttlichen Liebe verwandeln, hat der Erdenbürger anno 2017 alle Hoffnung fahren zu lassen. Katholischer Mystizismus ade, die „alte Johanna“ legt die junge, die sich eben zu Tode geschunden hat, ins Grab. Die Polizei steht vor vollendeten Tatsachen; und das Publikum jubelt über die körperliche Spitzenleistung einer Schauspielerin, steht aber, wenn es näher über die Sache nachzudenken versucht, vor einem Rätsel: Wozu hat man zu alledem noch die bunte Musik des Krönungszugs, das neobarocke Kartenspiel der intriganten politischen Granden und vor allem die expressiven Berufungsvisionen des Bauernmädchens aus Domrémy musiziert, noch dazu in akustisch unvorteilhafter Aufgabenteilung: hie das Orchester, da die Vokalstimmen und der Chor, die nur aus dem Off ertönen?

Ob Kazushi Ono ein guter Honegger-Interpret ist, ließ sich unter diesen Bedingungen nicht beurteilen. Man bezog ihn in den Schlussapplaus ebenso freundlich ein wie die Damen und Herren Sänger, die interessanterweise Kostüme trugen, obwohl man sie nur nach dem Fallen des Vorhangs zu Gesicht bekam. Haben sie auf einer Nebenbühne tatsächlich „Jeanne d'Arc“ gespielt, und wir hatten uns nur im Saal geirrt?

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