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Musiktheater
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Die Passagierin

Oper in zwei Akten
Libretto von Alexander Medwedew nach der gleichnamigen Novelle von Zofia Posmysz
Musik von Mieczysław Weinberg



In deutscher, polnischer, russischer, französischer, tschechischer, jiddischer und englischer Sprache mit deutschen Übertitel

Aufführungsdauer: ca. 3h (eine Pause)

Premiere im Großen Haus des Musiktheater im Revier am 28. Januar 2017


Homepage

Musiktheater im Revier
(Homepage)

"Wenn Eure Stimmen verhallt sind, gehen wir zugrunde"

Von Stefan Schmöe / Fotos: Forster

Es ist das Stück der Stunde, und man muss sagen: Leider. Auf die Provokationen vom tiefrechten Rand des deutschen Parlamentarismus bezüglich einer „erinnerungspolitischen 180-Grad-Wende“ hat das Gelsenkirchener Musiktheater im Revier ein paar Tage später mit der Passagierin die passende Antwort. Zufall, ja, weil der Vorlauf zu einer Opernpremiere natürlich groß ist, und doch nicht, weil Provokateur wie Theater den 27. Januar als Bezugspunkt gewählt haben, den Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust. Mehrfach wenden sich Figuren aus der Oper ganz direkt an das Publikum mit dem flammenden Appell: „Ihr dürft uns nicht vergessen.“ Und dieses Pathos hat seine Berechtigung, weil diese durch und durch großartige Aufführung ansonsten recht sachlich und unsentimental eine Geschichte aus Auschwitz erzählt - was an anderen Stellen oft gescheitert ist, in Mieczysław Weinbergs 1968 entstandener Oper aber tatsächlich funktioniert. Das hat sich auch schon bei der Uraufführung bei den Bregenzer Festspielen 2010, noch mehr in Frankfurt 2015 gezeigt.

Szenenfoto kommt später

Unerwartete Begegnung: Lisa (l.) und Marta

Die Oper basiert auf einer Novelle von Zofia Posmysz, die Auschwitz als Häftling überlebt hat. Weinberg und sein Librettist Alexander Medwedew ist es geschickt gelungen, daraus ein bühnentaugliches Operntextbuch zu extrahieren, sogar mit einer kleinen Liebesgeschichte, ohne im Kitsch zu enden. Es geht zunächst um das deutsche Diplomatenpaar Lisa und Walther, 1960 auf dem Weg zu einem mehrjährigen Aufenthalt in Brasilien. Auf der Überfahrt erkennt Lisa, die als Aufseherin im KZ Auschwitz an den Massenmorden beteiligt war, in einer mitreisenden Passagierin die damals dort inhaftierte Marta. In Rückblenden rekapituliert sie die Ereignisse, und während Walter, der bis dahin nichts von der Vergangenheit seiner Gattin wusste, um seine Karriere fürchtet und die Vergangenheit ansonsten vergessen möchte („es war eben Krieg“), kann Lisa sich der moralischen Dimension nicht länger entziehen.

Szenenfoto kommt später

Die Vergangenheit trübt das Eheglück: Lisa und Walter

Die Oper springt zwischen beiden Zeitebenen hin und her, konzentriert sich aber zunehmend auf Marta und die Ereignisse im Lager – vielleicht liegt es daran, dass Hanna Dóra Sturludóttir als Lisa ein wenig hölzern bleibt, allerdings auch ein wenig mehr dramatische Kraft in ihrem an sich schönen Sopran gebrauchen könnte. Kor-Jan Dusseljee gibt ihren Mann Walter mit durchsetzungsfähigem Tenor als einen Karrieristen mit einem Habitus ganz ähnlich dem der SS-Offiziere, dem man eine dunkle NS-Vergangenheit sofort zutraut. Lisa bleibt eine ambivalente Figur, keine ausgesprochen tyrannische Aufseherin, aber eben doch Teil der Mordmaschinerie. Natürlich sind die Sympathien auf Seiten von Marta, die als Passagierin wie eine stumme Schicksalsgöttin agiert – es gibt nicht die große Auseinandersetzung zwischen den gealterten Frauen, die man erwarten könnte. In Gabriele Rechs Inszenierung nimmt Marta Lisa am Arm, zwingt sie hinzusehen in die Vergangenheit. Ilia Papandreou spielt das sehr eindringlich und singt die Partie mit intensiv leuchtendem Sopran und hoher Intensität, und beim Schlussapplaus, da muss sie erst einmal um Fassung ringen – wie überhaupt das gesamte ganz ausgezeichnete Ensemble nicht nur exzellent mit kleinsten Nuancen spielt, sondern ganz darin aufgeht.

Szenenfoto kommt später

Erinnerungen an das KZ: Marta (l.) und Lisa (r.), dazwischen die Häftlinge Katja und Vlasta

Das ist möglich, weil Gabriele Rechs Regie eben nicht als Geschichts-Dokumentation angelegt ist, sondern in erster Linie von den Ängsten und Träumen der Menschen erzählt – das ist das, was die Gattung Oper leisten kann und bei Weinberg faszinierend leistet. Als Bühnenbild für alle Szenen hat Renée Listerdal das Casino des Schiffs entworfen, mit kleiner Bühne für die Combo, Bar und Lounge. In den KZ-Szenen wechseln die Kostüme, nicht aber dieser Rahmen – alles, das wird sehr deutlich, spielt sich in Lisas Erinnerung ab. Ganz widerspruchsfrei ist das nicht, schließlich gibt es lange Passagen, in denen die Inhaftierten unter sich sind (so die improvisierte Feier zu Martas 20. Geburtstag), aber es trägt, und es schafft einen distanzierenden Rahmen: Auch das Theater macht sich ein (notgedrungen vereinfachendes) Bild, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Die Gewalt wird nicht ausgeblendet, aber auch nicht vorgeführt; auf Schockelemente setzt Gabriele Rech nicht. Die ausgefeilte Personenregie setzt stärker auf die kleinen Gesten als auf die großen Momente.

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Lisa will Tadeusz, Martas Verlobtem, ein letztes Rendezvous gewähren - doch der lehnt ab.

Das deckt sich mit der Musik Weinbergs, die mehr auf die leisen als auf die lauten Töne setzt. Einen neuen Stil erfunden hat der Komponist nicht; er orientiert sich in erster Linie an Schostakowitsch (ohne dessen pointierten Zynismus), Janacek klingt immer wieder an (die Dramaturgie erinnert an Aus einem Totenhaus, aber auch die lyrischen Passagen aus Jenufa spürt man), manches ist zugespitzt wie bei Alfred Schnittke, und auch die Zeitoper der 1920er-Jahre mit ihrer Tanzmusik wird aufgegriffen, wenn Weinberg realistisch-reportagenhaft die Szenen auf dem Schiff untermalt. Dabei gelingt es ihm, das alles organisch zu einem eigenen Stil zu verschmelzen. Viele Szenen sind geradezu filmisch angelegt mit einem subtil untermalenden Klangteppich, in den liedhaften Gesängen der Gefangenen bekommt die Musik ganz plastisch eine Gebrauchsfunktion, ohne die Kunstebene zu verlassen. Der Begegnung von Marta mit ihrem Verlobten Tadeusz (von Lisa geduldet, aber auch als emotionales Machtwerkzeug eingesetzt) fehlt jede Puccini-Attitüde, statt dessen hält sich die Musik geradezu auffällig zurück, als wolle sie die beiden in diesem Moment der Vertrautheit nicht belauschen.

Dieser Tadeusz (Piotr Prochera singt mit Emphase und spielt auch noch passabel Violine) soll dem Lagerkommandanten dessen Lieblingswalzer vorgeigen (der schräg nach Schostakowitsch klingt), aber beginnt statt dessen die Chaconne aus Bachs d-Moll-Partita, wissend, dass dies seinen Tod bedeutet. Ausgerechnet dieses Heiligtum urdeutscher Musikkultur halten Weinberg und Medwedew dem Nazi-Terror entgegen, und darin manifestiert sich der Glaube an eine übernationale, humanistische Kunst. Weinberg wechselt hier blitzschnell die Perspektive, wenn er in der zweiten Variation die Musik vom Orchester aufgreifen und alsbald in einem schrillen Aufschrei enden lässt. Und die Oper überblendet genial die beiden Zeitebenen, in dem die gealterte Marta eben diesen Walzer von der Bordkapelle spielen lässt und die anwesende Lisa mit der gemeinsamen Vergangenheit konfrontiert – sie selbst musste damals Tadeusz‘ Auftritt vor dem Kommandanten auf Lisas Befehl anhören.

Szenenfoto kommt später

Die Inhaftierten auf dem Weg in den Tod

An anderer Stelle lässt Weinberg die Musik in Stille auslaufen. Als die inhaftierten Frauen kurz vor ihrem Tod volksliedhaft ihrem Lebenswillen Ausdruck geben, fehlt ihnen aber zuletzt sogar die Musik. Der fürchterliche Moment der Stille und des Verstummens (das Schlimmste, was in der Oper geschehen kann) gehört zu den eindrucksvollsten Stellen des Werks. Hinreißend schön, wie zuvor Alfia Kamalova als Russin Katja und Bele Kumberger als Französin Ivette, aber auch Anke Sieloff, Silvia Oelschläger, Noriko Ogawa-Yatake, Almut Herbst und Christa Platzer diese in ihrer Zusammensetzung stellvertretend für alle Opfer agierende Frauengruppe singt und spielt, jeder einzelnen Individualität und Persönlichkeit geben – und das Erinnern einfordern. Nicht für die schreckliche Zahl der Oper, sondern für jedes Einzelschicksal. Weinbergs unsentimentales, aber immens emotionales Programm macht aber auch deutlich, dass dieses Erinnern auch und gerade für die Nachgeborenen konstituierend für die (eigene) Menschlichkeit und Menschenwürde ist: Ein Verdrängen dieses Erinnerns und des Trauerns käme einer Verstümmelung unseres emotionalen Bewusstseins gleich.

Neigte die Uraufführungsproduktion in Bregenz noch zu Weitschweifigkeit, so ist diese knapp über drei Stunden dauernde mitreißende Produktion keine Note zu lang. Unter der Leitung von Valtteri Rauhalammi spielt die Neue Philharmonie Westfallen sehr sensibel, betörend in den vielen Pianissimo-Passagen und zupackend in den Forte-Attacken. Chor und Extrachor singen (mehrfach aus dem Off das Geschehen kommentierend) sehr sauber und mit sattem Klang. Flankiert wird die Produktion von einem umfangreichen Begleitprogramm, unter anderem einer kleinen Ausstellung zur Geschichte des Gelsenkirchener Theaters im Nationalsozialismus.


FAZIT

Eine mitreißende Oper in einer berührenden Umsetzung. Unbedingt ansehen und -hören, nicht einer wie auch immer gearteten political correctness wegen, sondern weil es sich große, bewegende Kunst handelt.


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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Valtteri Rauhalammi

Inszenierung
Gabriele Rech

Bühnenbild
Dirk Becker

Kostüme
Renée Listerdal

Licht
Patrick Fuchs

Dramaturgie
Stefan Steinmetz
Gabriele Wiesmüller



Statisterie, Chor und Extrachor
des Musiktheater im Revier

Neue Philharmonie Westfalen


Solisten

Lisa
Hanna Dóra Sturludóttir

Walter
Kor-Jan Dusseljee

Marta
Ilia Papandreou

Tadeusz
Piotr Prochera

Katja
Alfia Kamalova

Krystina
Anke Sieloff

Vlasta
Silvia Oelschläger

Hannah
Noriko Ogawa-Yatake

Yvette
Bele Kumberger

Bronka
Almuth Herbst

Alte
Christa Platzer

1. SS-Mann
Joachim G. Maaß

2. SS-Mann
Oliver Aigner

3. SS-Mann
Tobias Glagau

Steward
Sebastian Schiller

Passagier
Marvin Zobel

Kapo
Patricia Pallmer

Oberaufseherin
Heike Einhorn



Weitere
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Da capo al Fine

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