Premiere:Seelen wie auf dem Notenblatt

In David Aldens Münchner Inszenierung der Rossini-Oper "Semiramide" überzeugt nur die furiose Joyce DiDonato als Titelheldin.

Von Reinhard J. Brembeck

Fünfzehn Jahre Trauer sind schon ein bisschen viel. Die Frau aber, die stolz wie eine Königin an der Rampe des Münchner Nationaltheaters steht, hat beste Gründe, die Trauerzeit in die Länge zu dehnen. Es fällt ihr nicht schwer, weil sich der Schmerz in Grenzen hält. Erstens hat sie, die Chefin von Babylon, vermittels des machtlüsternen Gewaltmenschen Assur ihren Mann vergiftet, der ihr nun in Albträumen erscheint. Zweitens muss sie den ihr mittlerweile verhassten Mordgenossen während der Trauerzeit nicht heiraten. Und drittens liebt sie den Ausländer Arsace.

Semiramide, hierzulande besser bekannt als Semiramis, die legendäre Gründerin Babylons, ist ein grandioser Prachtcharakter. Kein Wunder, dass Gioachino Rossini ihr seine längsten und abgründigsten Tongirlanden gewidmet hat. Schon deshalb kommt die 1823 uraufgeführte Oper "Semiramide" nur selten auf die Bühne. Denn dafür braucht es eine überirdisch gute Sängerin, die aus Rossinis Tonlametta diesen Prachtcharakter hervorzaubern kann.

Joyce DiDonato, 48, ist eine der wenigen Ausnahmesängerinnen, die das kann. Jetzt steht sie also im Trauergewand an der Rampe, ganz Königin, ganz Herrscherin. Jede ihrer Melodien und Koloraturen ist verschattet und vielfach gebrochen. Semiramides Albträume und Ängste irrlichtern beständig durch DiDonatos Gesang. Jeder Ton ist anders gefärbt, die Phrasen schwellen an ins Nichts, sie brechen unvermittelt ein, sie sind so gezackt und zerschlissen wie die gebeutelte Psyche dieser Frau. Und Joyce DiDonato, das macht den Ausnahmerang dieser Sängerin aus, erzählt mit jedem Ton etwas Neues und immer mehr über den Charakter ihrer Königin. Nach und nach bekommt die stolze Fassade dieser Frau immer größere Risse, der Zusammenbruch wird konsequent vorbereitet. Tiefschlag folgt auf Tiefschlag, Semiramides Seele zerfasert und zuletzt wird sie aus Versehen vom eigenen Sohn erstochen - die gruselige Rache ihres Gatten.

Alex Esposito (Assur), Joyce DiDonato (Semiramide), Daniela Barcellona (Arsace), Lawrence Brownlee (Idreno)

Joyce DiDonato als Semiramide (vorn in der Mitte) ist der faszinierende Mittelpunkt in Rossinis Oper.

(Foto: Winfried Hösl)

Während Joyce DiDonato ihre fantastische Gesangskunst stets als Mittel zur Charakterzeichnung einsetzt, begnügen sich ihre Mitsänger allzu oft mit brillanter Vokalakrobatik, die nur sehr unzureichend auf die jeweilige Rolle zielt. Daniela Barcellona singt mit herrlich dunkler Tiefe und rasantissimo die aberwitzigsten Tonfolgen. Das ist perfekt und verblüffend. Weil sie aber immer etwas uniform klingt, erfährt der Hörer kaum etwas über ihren Arsace. Der erscheint anfangs bloß als ein harmlos Liebender, doch schon da müsste er von jenen Rätseln umgeben sein, die sich dann langsam lösen. Bald wird Arsace seiner Identität beraubt, alle Sicherheiten schwinden ihm. Wenn er zuletzt mit Semiramide dessen eigene Mutter ermordet und postwendend zum Herrscher von Babylon ausgerufen wird, ist er psychisch völlig zerstört.

Arsace ist die interessanteste Rolle dieser Oper, doch man kann ihm sicher nicht mit den gängigen Opernklischees und brillanter Gesangstechnik beikommen. Zudem wird Daniela Barcellona von David Alden, diesem in der Ära von Intendant Peter Jonas einst bis zum Überdruss überbeschäftigten Regisseur, kaum zu subtiler Charakterzeichnung verführt.

Alden lässt im klassizistischen Monumentalkasten-Bühnenbild von Paul Steinberg den Chor regelmäßig in Standbildern erstarren. Genaue Menschenporträts, eine These oder gar eine weiterführende Exegese dieses romantischen Rache- und Schauerstücks samt Geistererscheinung aber bietet er nicht. Vielleicht darf deshalb Alex Esposito als Schuft Assur auch nur einen harmlosen Opernschuft wie aus dem Bilderbuch zeigen. Das ist sehr wenig. Dabei würden Espositos Vokal- und Schauspielkünste viel mehr hergeben.

Gleiches gilt für den Oberpriester, den Simone Alberghini singt. Alle Überraschungen und Entwicklungen gehen von ihm aus. Spätestens wenn er beim finalen Mord scheinheilig ins Gebet versunken daneben kniet, wird man das Gefühl nicht los, dass dieser Priester womöglich hinterhältig eine Palastrevolte anzettelt, um die Frau von der Macht zu vertreiben und sie durch seinen Schützling zu ersetzen. Aber das bleibt Spekulation, die Regie wagt nie so etwas wie Interpretation.

Die Musik klingt ziemlich gut gelaunt für diese brutale Geschichte

Obwohl Michele Mariotti das wie ein genuin italienisches Ensemble aufspielende Staatsorchester mit viel Leidenschaft antreibt und dabei ein großes Faible für abgründige und doppelbödige Momente beweist, kann er nicht verhindern, dass sich dieser Vier-Stunden-Abend etwas in die Länge zieht. Was auch daran liegt, dass das Drama um Semiramide und Arsace durch zu viele Personen und Szenen ausgeweitet wird, die nicht zwingend notwendig wären für den Plot. So gibt Lawrence Brownlee mit virtuosem Tenor einen Prinzen, der von Anfang an keine Aussicht auf die Thronbesteigung hat. So gern man Brownlee hört und so sehr er vom Publikum gefeiert wird: Seine Rolle hätte sich leicht streichen lassen, es wäre ein Gewinn für den dramatischen Bogen gewesen. Ähnliches gilt für Elsa Benoits nur als hübsche Zierde herumstehende Azema, genauso für etliche Chorszenen.

Der schnell nachlassende Beifall zuletzt beweist dann vor allem, dass Oper als reines Sängerfest nicht funktioniert. Zumindest nicht, wenn Singen als Selbstzweck betrieben wird und nicht dazu dient, einen Charakter in all seinen Verschattungen, Widersprüchen, Sehnsüchten und Widerwärtigkeiten zu porträtieren. Denn selbst Joyce DiDonato, die das so grandios vorführt, kann damit nicht die entscheidenden Fragen zur Relevanz dieser "Semiramide" beantworten. Diese Geschichte ist in vielen Belangen hoffnungslos veraltet. Sie gehört einer Schauerromantik an, in der sich die Lust am Gruseln mit Frauenfeindlichkeit verbindet. Zudem wirkt Rossinis Musik oft viel zu gut gelaunt und gelegentlich zu oberflächlich für diese brutale Geschichte mit ihren ins Psychopatholgische hineinzielenden Verwicklungen. Auch das ist ein Grund, warum das Stück fast vollständig aus den Spielplänen verschwunden ist.

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