Jack the Ripper bricht Lulu das Genick

Männermordender Vamp? Unschuldsmädel mit Schmollmund? Mit Barbara Hannigan in der Titelrolle erlebt man Alban Bergs «Lulu» an der Hamburgischen Staatsoper völlig neu – besonders den problematischen Schluss des Stücks.

Julia Spinola, Hamburg
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Fatale Luftgymnastikerin: Barbara Hannigan als Lulu, mit Ivan Ludlow (Athlet) und Jochen Schmeckenbecher (Doktor Schön, rechts vorne). (Bild: Monika Rittershaus / Hamburgische Staatsoper)

Fatale Luftgymnastikerin: Barbara Hannigan als Lulu, mit Ivan Ludlow (Athlet) und Jochen Schmeckenbecher (Doktor Schön, rechts vorne). (Bild: Monika Rittershaus / Hamburgische Staatsoper)

Die kanadische Sopranistin Barbara Hannigan ist ein Multitalent – das weiss man spätestens seit ihrer Residenz am Luzerner Sommerfestival 2016. Hannigan kann nicht nur schwindelerregend koloraturen- und höhensicher die kompliziertesten modernen Partien singen, sondern macht mittlerweile auch als Dirigentin Furore. Das ist jedoch beileibe nicht alles: Das Ausdrucksvermögen dieser Frau scheint so überbordend zu sein, dass es die Grenzen zwischen den einzelnen Ausdrucksformen auf wundersame Weise sprengt.

So hätte man fast ahnen können, dass Barbara Hannigan auch als Tänzerin und sogar als Zirkusakrobatin buchstäblich «bella figura» macht. Obendrein gelingt ihr jetzt in Christoph Marthalers «Lulu»-Inszenierung etwas, was man eigentlich für grundsätzlich unmöglich gehalten hatte. Hannigan verkörpert die Titelfigur der Oper ganz und gar aus dem fluiden Geist von Alban Bergs Musik heraus: als ein mimetisches Prinzip, als das zur Bühnenfigur geronnene innere Wesen des künstlerischen Ausdrucks.

Der Lemur im Nacken

Denn wer oder was ist diese Lulu, die sich im Jenseits den Schlaf aus den Augen reibt und die nie etwas anderes «scheinen» wollte, als sie ist – wie es im Libretto heisst? Sie ist die musikalische Chiffre einer überfliessenden und sich beständig neu erzeugenden Schönheit. Darin mag man das idealisierte Selbstporträt des Komponisten Alban Berg erkennen: ein verführerisch glitzerndes, prismatisch funkelndes Bild vom Glück, das so schamlos direkt und doch arglos an unsere tiefsten Sehnsüchte rührt, wie eben nur Musik es kann. Und wenn man bisher glaubte, eine solche Chiffre des musikalischen Ausdrucks liesse sich allenfalls mit grossen Kompromissen auf der Bühne darstellen, wird man in Hamburg nun auch dank der klugen Regie Christoph Marthalers eines Besseren belehrt.

Alle Klischees, die diese Figur auf den Opernbühnen schon erlitten hat, vom immerfort alberne Erotik-Verrenkungen vollführenden Vamp bis zum dummen Unschuldsmädel mit Kulleraugen und Schmollmund, fegt Hannigan mit einem Schlag hinweg. Stattdessen drückt sich diese Lulu, ausser in Tönen, auf gänzlich unschematische Weise mit ihrem Körper aus. Sie bewegt sich in einer Art tänzerischem Morsealphabet, mit kryptischen und doch natürlich wirkenden Bewegungen, die sich um die äussere Wirkung nicht scheren, aber doch mehrdeutig mitteilsam sind.

Sie schlingt sich wie eine Pflanze um die Körper, die sie begehrt, hockt dem Gewaltmenschen Doktor Schön wie ein lästiger Lemur im Nacken und lässt sich vom Athleten willenlos durch die Luft schleudern oder zu Boden werfen. Und sie zeigt mit ihrem Körper auch all die Versehrungen, die in der Welt der moralischen Imperative und des zweckgerichteten Handelns einem derart ungeschützten Wesen widerfahren, das halb puppenhafte Kunstfigur, halb unverfälschte Natur zu sein scheint.

Lulu ist die musikalische Chiffre
einer überfliessenden und sich beständig neu erzeugenden Schönheit.

In der Menagerie des ersten Aktes, für den Anna Viebrock eine heruntergekommene Variétébühne entworfen hat, kauert Lulu im hellblauen Bademantel auf dem ihr zugewiesenen Podest und vollführt immerzu das gleiche Bewegungsritual: Rolle rückwärts vom Podest herab, die Stufen wieder hinauf, seitwärts in die kauernde Ausgangsposition fallen und dann wieder über die Rückwärtsrolle hinab. Das «wilde, schöne Tier» trägt ein weisses T-Shirt mit Totenkopf-Aufdruck und ist hospitalistisch geworden.

Wenn die Männer – Lulus «Trabanten», wie Berg sie nannte – ihr beiläufig wegsterben wie die Fliegen, hat sie daran weder Schuld, noch nimmt sie in irgendeiner Weise Anteil. Denn es gibt in Marthalers detailreicher Regie zwischen den agierenden Figuren kaum Berührungspunkte. Alle sind sie in sich verkapselt und handeln aneinander vorbei.

Wie so oft hat Marthaler auch hier wieder allerlei skurrile stumme Nebenrollen hinzuerfunden, um das surreal abgründige Szenario perfekt zu machen. Ein Diener trägt immer wieder ein herrenloses Glas Bier auf einem Tablett durch den Raum, und vier Tänzerinnen, die der Besetzungszettel als Figuren aus Wedekinds Drama «Die Büchse der Pandora» ausweist, das Bergs Libretto als Vorlage diente, treten als Lulus Schwestern im Geiste auf.

Nach der Hochzeit mit Doktor Schön, zeigt die Inszenierung Lulu im bürgerlichen holzvertäfelten Interieur des zweiten Aktes auf der Höhe ihrer Ausdrucksmöglichkeiten: Verzückt steht sie minutenlang barfuss auf der Spitze und brilliert mit allerlei Kunststücken. Den frühvergreisten Doktor Schön, der senil über die Bühne schlurft, erschiesst sie während einer Akrobatiknummer kopfüber herabhängend von den Schultern des Athleten.

Als traurigste aller Strassendirnen erscheint sie im letzten Bild des von Berg unvollendet hinterlassenen dritten Aktes: mit leerem Blick und willenlos schlenkernden Armen auf der Stelle hoch und nieder hüpfend wie ein kaputtes Aufziehspielzeug. Jack the Ripper bricht ihr denn auch im Vorübergehen mit einem beiläufigen Ruck das Genick. Es ist ein Mord, der kein Motiv und keinen Sinn hat, sondern nur einer spontanen, lebensverachtenden Laune entspringt. Das freilich wollte das Team der Hamburger Aufführung so nicht stehenlassen.

Ideale Schlusslösung

Die neue Aufführungsfassung des von Berg nur in der Kompositionsskizze hinterlassenen dritten Aktes, die der Hamburger Generalmusikdirektor Kent Nagano zusammen mit Johannes Harneit, Christoph Marthaler und dem Dramaturgen Malte Ubenauf erstellt hat, vertraut den Notentext des Particells beinahe nur einem Klavier und einer Violine an, die auf der Bühne gespielt werden. Ein zweites Klavier im Orchestergraben und einige wenige Bläsereinwürfe fundieren die Bühnenmusik, wodurch der fragmentierte, provisorische Charakter des letzten Aktes betont wird.

Es ist genug: Lulu (Barbara Hannigan) und die Geigerin Veronika Eberle am Schluss der Aufführung. (Bild: Monika Rittershaus / Hamburgische Staatsoper)

Es ist genug: Lulu (Barbara Hannigan) und die Geigerin Veronika Eberle am Schluss der Aufführung. (Bild: Monika Rittershaus / Hamburgische Staatsoper)

Der ausgezehrte Orchesterklang gibt zugleich ein eindringliches musikalisches Bild von Lulus Zerstörung. Mehrfach klingt in der Musik der letzten Szene das eröffnende Motiv von Bergs berühmtem Violinkonzert an. Und so erscheint es musikalisch schlüssig, dass die junge Violinistin Veronika Eberle als eine Art geigende Wiedergängerin der Titelfigur im Anschluss an Lulus Tod auf der Bühne das gesamte Violinkonzert spielt, das Berg dem «Andenken eines Engels» gewidmet hat. Dieses Requiem auf Manon Gropius wird so zum Trauergesang auf Lulu. Eine so ideale Lösung für das Problem mit dem unfertigen dritten Akt hat man noch nicht erlebt.

Insgesamt gelingt die zu Recht bejubelte Hamburger Premiere musikalisch auf allerhöchstem Niveau, mit einem bis in die kleinste Nebenrolle exzellent besetzten Sängerensemble, in dem Anne Sofie von Otter als Gräfin Geschwitz, Sergei Leiferkus als Schigolch und Jochen Schmeckenbecher als Doktor Schön brillieren. Nagano erweckt im transparenten, klar strukturierten und doch beseelten Spiel des Philharmonischen Staatsorchesters die planvoll wuchernde Polyfonie von Bergs zwölftöniger Wunderpartitur zu traumgleichem Leben. Es ist eine Musik, die in ihrem überbordenden Ausdrucksreichtum so gnadenlos wahrhaftig bleibt, dass sie vom Glück, das sie verheisst, nur im Ton namenloser Trauer kündet.