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Musiktheater
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Elektra

Tragödie in einem Akt
Libretto von Hugo von Hofmannsthal
Musik von Richard Strauss

in deutscher Sprache mit deutschen Übertiteln

Aufführungsdauer: ca. 2 Stunden (keine Pause)

Premiere im Opernhaus des Staatstheaters Kassel am 18. Februar 2017

 



Staatstheater Kassel
(Homepage)

Die Seelen hinter dem Rachewahn

Von Bernd Stopka / Fotos von N. Klinger

Es ist eine wilde Geschichte, die durch Elektra tobt, eine der genialsten Opern von Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss und eine der genialsten Opern überhaupt: Klytämnestra hatte zusammen mit ihrem Liebhaber Aegisth ihren Gatten Agamemnon im Bade ermordet, als er sich nach seiner Heimkehr den Staub des Trojanischen Krieges abwaschen wollte. Sie konnte es ihm nicht verzeihen, dass er bereit war, ihre gemeinsame Tochter Iphigenie den Göttern zu opfern, um wiederauflebende Winde für die Überfahrt nach Troja zu erwirken. Dass Iphigenie noch lebt, weiß sie nicht, das ist aber auch unerheblich, denn die Bereitschaft zur Opferung allein hat in Klytämnestra Leid und Hass entflammt. Obendrein war sie wütend, dass er 10 Jahre weg war und konnte ihn auch nicht mehr brauchen, denn mittlerweile war sie schon mit Aegisth liiert. Sie ist eine vom schlechten Gewissen gequälte Frau, die nicht zur Ruhe kommt und vergeblich Verständnis und Vergebung bei Elektra sucht.
Die tot gewähnte Iphigenie lebt als Priesterin in Tauris, die anderen beiden Töchter leben weiterhin am Hofe. Die opportunistische Chrysothemis ist unglücklich, hat sich aber arrangiert, Elektra vegetiert dagegen als bösartige und giftzüngige Außenseiterin, die nur einen einzigen Gedanken verfolgt: Rache für den Mord am Vater. Das vierte Kind, Orest, der eigentlich ebenfalls ermordet werden sollte, ist inzwischen am Hofe des Königs von Phokis zu einem Mann gereift und kommt nach Befragung des Orakels von Delphi zurück, um seinerseits den Tod des Vaters zu rächen – worauf Elektra und Chrysothemis hoffen. Alle schauen wie mit Scheuklappen nur aus einem einzigen Blickwinkel auf die Geschichte, ohne links und rechts die Beweggründe des anderen wahrzunehmen. So kann es kein Verständnis füreinander geben – nur den Gedanken an Rache. Und das ist eine ganze Menge Rache für eine einzige und dazu noch so kurze Oper. Die Leidenschaften toben allein schon aufgrund der Geschichte. Durch Strauss‘ geniale musikalische Umsetzung bis an den Rand der Tonalität erfährt sie eine kongeniale Ergänzung.

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oben: Inna Kalinina (die Schleppträgerin), Ulrike Schneider (Klytämnestra) unten: Nayeon Kim (Die Vertraute)

Es ist eine sehr blutige Rache, die Regisseur Markus Dietz in den Bühnenbildern von Ines Nadler und den Kostümen von Henrike Bromber auf der Bühne des Staatstheaters Kassel lebendig werden lässt. Eine bühnenhohe weiße Pappwand, aus der auf zwei Ebenen immer wieder Durchblicke und Durchgänge gerissen werden und dann einen rot ausgeleuchteten Hintergrund sichtbar werden lassen, bildet neben dem mit Wasser gefluteten Bühnenboden das stilisierte Einheitsbühnenbild. Wenn Elektra vom Mord an ihrem Vater berichtet, läuft blutrote Farbe die Wände herunter und mischt sich mit dem Wasser – so wie sich das Blut des im Bade ermordeten Vaters mit dem Wasser gemischt hat – und wird zu einem wortwörtlichen Blutbad. Elektra erscheint wie der Teufel persönlich mit Rauch und Dampf. In scheinbar hoffnungsvollen Momenten schwebt eine warm leuchtende Glühlampe herab, bei mehr Hoffnung mehr Lampen. Das Schwarzweiß-Denken der Figuren wird auch durch Beleuchtungseffekte mit den Farben Rot und Weiß verdeutlicht. Mehr Bühneneffekte gibt es nicht – und braucht es auch nicht, denn das Bühnenbild bildet nur den äußeren Rahmen für eine ungeheuer spannende und feingearbeitete Personenregie, durch die der Regisseur hinter den vom Wahn getriebenen Figuren echte Menschen mit ihren Sehnsüchten und Zerbrechlichkeiten zeigt.

Das Hauptaugenmerk legt er auf das Schicksal der vier Geschwister, die als Kinder-Doubles nicht nur auf der Bühne sichtbar sind, sondern zuweilen auch in das Geschehen eingreifen.  So ist es Iphigenie, die ihrem kleinen Bruder das Beil abnimmt, um es ihrem großen Bruder zu bringen und es ist auch die blutverschmierte Iphigenie, die versucht, ihre verzweifelte Mutter zu trösten, ohne ihr mitteilen zu können, dass sie noch lebt. Indem der Regisseur die Vorgeschichte und die Hintergründe beleuchtet, erklärt er die Beweggründe Klytämnestras, ohne sie zu entschuldigen, bringt damit aber deutlich die dringend benötigte Dimension von Verständnis und Vertiefung ein. Zu Elektras Erzählung erscheint Agamemnon leibhaftig, entführt das Iphigenie-Kind und bringt es scheinbar tot und blutverschmiert zurück. Streichelnd versucht er, sich bei den anderen Geschwistern als guter Vater zu zeigen, vielleicht auch Verständnis oder Verzeihung zu erwirken – so, wie es Klytämnestra später bei Elektra versuchen wird. Doch nur die erwachsene Elektra umarmt ihn liebevoll und kuschelt sich zärtlich an. Doch ist es wirklich Agamemnon? Oder doch Orest? Der Darsteller ist der gleiche.

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Ingela Brimberg (Elektra)

Diese Elektra ist kein wildes Tier, sie ist eine Besessene, eine Getriebene, eine Verschlagene und Intrigante, die sehr wohl weiß, was sie tut und alle ihre Möglichkeiten nutzt. Doch sie ist auch eine sehnsüchtige, verletzte Seele, was in dieser Charakterzeichnung besonders in ihrem Verhältnis zu Klytämnestra deutlich wird. Ja, sie versucht, sie zu überreden, den Bruder zurückkommen zu lassen und setzt dazu Mittel ein, die die seelische Situation Klytämnestras ausnutzen. Aber da gibt es Berührungen und Blicke, die die Sehnsucht einer Tochter nach der Mutterliebe, ja sogar ein Stück Mitleid zeigen und die sich Frieden wünschen. Wünsche und Sehnsüchte, die dann brutal, geradezu psychoterroristisch zerschlagen werden, wenn nicht nur klar wird, dass Klytämnestra nicht mitspielt, sondern dass es nie Familienfrieden geben kann, weil sich Elektra Orest nur zurückwünscht, damit er den Rachemord an der Mutter vollziehen kann.

Klytämnestra erscheint nicht als alte, kranke Frau, sondern als durchaus verführerisches Vollweib, allerdings mit einem deutlichen Edelnutten-Anteil. Unter ihrer blonden Langhaarperücke ist sie kurzgeschoren, was einerseits an die gesellschaftliche Strafe für sexuelle Vergehen aus einer gar nicht so weit zurückliegenden Vergangenheit erinnert, andererseits aber das mittelalterliche Austreiben von bösen Geistern durch das Scheren der Haare assoziieren lässt. Und von bösen Geistern=Träumen ist die Dame ja zur Genüge geplagt.  An die Kraft der Steine scheint sie in Kassel allerdings nicht mehr zu glauben, denn mit denen ist sie nicht behängt. Dass sie ihre Erlösung auch in der Lust sucht, wird darin deutlich, dass sie in Orest nicht ihren Sohn erkennt, sondern einen neuen Liebhaber, den sie halb auszieht und in ihr Schlafzimmer entführt (Ödipus mal andersherum). Der spielt einen Moment mit, bevor er sie dann brutal tötet und damit seinen Auftrag erfüllt – aber keinesfalls Frieden findet. Die Mythologie berichtet, wie er als Strafe für seinen Muttermord von den Erinnyen verfolgt wird, die Regie zeigt das sehr deutlich, wenn er nach der Tat auf der oberen Ebene der Bühnenwand erscheint. Sein erster, dämonischer Auftritt aus der Dunkelheit („Ich muss hier warten“) lässt einem eiskalte Schauer über den Rücken laufen – ein scheinbarer Rachegott, der sich dann aber als ein Besessener mit wilden mimischen Zuckungen entpuppt.

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Young Doo Park (Orest), Ulrike Schneider (Klytämnestra)

Der Lebens-, Liebes- und Kinderwunsch der Chrysothemis bildet einen deutlichen Kontrast, der für einen Moment daran erinnert, dass es ja auch noch ein „normales“ Leben gibt. Sie erscheint (wie so oft) im Brautkleid, singt die herrlichste Musik, schaut aber selbst doch nur, wie sie am besten durchkommt und hängt ihre Fahne in den Wind. Eine immer elegant gekleidete Mitläuferin, die Orests Tat zum Schluss am lautesten feiert und am wenigsten dazu beigetragen hat.

Viele szenische Details zeigen zusätzlich, wie genau der Text umgesetzt wird. Die 5. Magd, die als einzige für Elektra spricht und dafür von den anderen mit dem Kopf in einem Wassereimer gefoltert wird, hat tatsächlich lange Haare, mit denen sie Elektra die Füße trocken möchte, nachdem sie sie ihr gesalbt hat. Und wenn Elektra beklagt, dass ihr Haar „versträhnt, beschmutzt, erniedrigt“ ist, versucht ihr Kind-Double sich im blutigen Wasser vergeblich die Haare reinzuwaschen.
„Alle, die leben, sind mit Blut bespritzt und haben selbst Wunden“ singt Chrysothemis am Ende, alle haben sich in der Absicht, Schuld zu sühnen und Frieden finden zu wollen, schuldig gemacht und alle haben sich am Ende in der Brühe aus Wasser und Blut gewälzt.

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vorne links: Nayeon Kim (Die Vertraute), Vida Mikneviciute (Chrysothemis), Damen und Herren des Opernchores

So wie diese großartige szenische Umsetzung den Zuschauer mit Hochspannung bannt, zieht Patrik Ringborg ihn vom Pult aus in einen geradezu atemberaubenden musikalischen Sog. Dabei betont er mit oftmals gedehnten, aber nie überdehnten Tempi vor allem die harmonischen Anteile der Partitur, lässt deutlich die Anklänge zur Frau ohne Schatten und auch zum Rosenkavalier hören, schwelgt nicht nur in Chrysothemis‘ Sehnsüchten, sondern arbeitet auch die sanften Anteile Elektras heraus. Umso prägnanter wirken dann die scharfen und harten Klänge. Orests Auftritt, der wie oben beschrieben schon szenisch grandios ist, begleitet er mit einem Tubablasen wie zum Jüngsten Gericht. Das Orchester ist bestens disponiert und setzt das Konzept seines GMDs hochkonzentriert in leidenschaftliche Klänge um. Es ist Patrik Ringborgs letztes Opernpremieren-Dirigat als GMD in Kassel, ein Dirigat, mit dem er in bester Erinnerung bleiben wird.

Ingela Brimberg ist eine ganz außergewöhnliche Elektra. Selten hat man die Partie so kultiviert gesungen gehört, so differenziert gestaltet gesehen und so vielfältig szenisch und gesanglich interpretiert erlebt. Mit vollklingender Tiefe und eher etwas dunklerem Timbre betont sie vor allem die verletzte Seele dieser jungen, durchaus attraktiven Frau. Manch einer mag die in dieser Partie sonst oft gehörte „Trompete“ in der Stimme vermissen, aber davon gibt es genug auf der Welt, hier klingt etwas ganz Besonderes, etwas sehr Feinsinniges durch und das steht der Elektra außerordentlich gut. Vida Mikneviciute singt die Chrysothemis mit beseeltem Sopran geradezu steinerweichend. Die Stimme strahlt und blüht, wenn auch etwas  vibratoreich. Ulrike Schneider gibt ein Kabinettstück als Klytämnestra, sowohl in der bereits beschriebenen Darstellung als auch gesanglich. Dabei setzt sie ihre reichen interpretatorischen Möglichkeiten ebenso überzeugend ein wie ihre vielfältigen stimmlichen Ausdrucksvarianten. Als Orest verbreitet Young Doo Park mit gewaltiger, aber kultivierter Stimmkraft und dämonischem Ausdruck Gänsehaut. Johannes An wertet den kurzen Auftritt des Aegisth mit stimmlicher Präsenz und Durchschlagskraft auf. Überzeugend sind auch die kleineren Partien besetzt, wobei die Mägde nebst Aufseherin besondere Erwähnung verdient haben. Einen ganz besonderen Effekt erzielt der nicht wie vorgeschrieben aus dem Off sondern auf der Bühne singende Chor mit gewaltigen, eher erschreckenden als jubelnden Klängen, was dem Drama einen ebenso angemessenen wie verstörenden Schlusspunkt setzt. In der Oper – in der Mythologie geht der Wahnsinn weiter.

FAZIT

Ein szenisch wie musikalisch ganz großer Opernabend! Psychoanalytisches Musiktheater vom Feinsten und Spannendsten.


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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Patrik Ringborg

Inszenierung
Markus Dietz

Bühne
Ines Nadler

Kostüme
Henrike Bromber

Licht
Albert Geisel

Chor
Marco Zeiser Celesti

Dramaturgie
Ursula Benzing

 

Staatsorchester Kassel

Opern- und Extrachor
des Staatstheaters Kassel

Statisterie
des Staatstheaters Kassel


Solisten

Klytämnestra
Ulrike Schneider

Elektra
Ingela Brimberg

Chrysothemis
Vida Mikneviciute

Aegisth
Johannes An

Orest
Young Doo Park

Der Pfleger des Orest
Marc-Olivier Oetterli

Die Vertraute
Nayeon Kim

Die Schleppträgerin
Inna Kalinina

Ein junger Diener
Bassem Alkhouri

Ein alter Diener
Marc-Olivier Oetterli

Die Aufseherin
Doris Neidig

1. Magd
Almerija Delic

2. Magd
Maren Engelhardt

3. Magd
Marta Herman

4. Magd
Ani Yorentz

5. Magd
Lin Lin Fan

Kinder
Alicia Neumann
Eva Radzikhovskiy
Amelie Urbassek
Benjamin Klein


Weitere
Informationen

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Staatstheater Kassel
(Homepage)



Da capo al Fine

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