Mit brennender Feder

Geht also doch: Die Grand Opéra «Les Troyens» von Hector Berlioz erklingt ungekürzt an der Oper Frankfurt und wird durch zwei Sängerinnen und den Dirigenten zum Ereignis.

Christian Wildhagen, Frankfurt
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Nur die Seherin Kassandra (Tanja Ariane Baumgartner) ahnt, dass mit diesem merkwürdigen Gaul etwas nicht stimmt. (Bild: Barbara Aumüller / Oper Frankfurt)

Nur die Seherin Kassandra (Tanja Ariane Baumgartner) ahnt, dass mit diesem merkwürdigen Gaul etwas nicht stimmt. (Bild: Barbara Aumüller / Oper Frankfurt)

Gut ein Jahrhundert lang, bis zur verspäteten Uraufführung 1969 im fernen Glasgow, hielt man sie komplett für unspielbar. Und noch heute stellt eine ungekürzte Wiedergabe von Hector Berlioz' fünfstündiger Grand Opéra «Les Troyens» einen Kraftakt sondergleichen dar, für jedes Opernhaus. Selbst Wagner-gestählte Bühnen stossen hier an Grenzen. Man kann es nicht anders sagen: Dieses grossartige Stück ist eine ebenso grossartige Zumutung!

Das beginnt schon mit dem äusseren Aufwand, denn eigentlich ist dieses Werk ein Diptychon aus zwei – subtil miteinander verknüpften – Opern und wartet dementsprechend auch mit zwei grundverschiedenen Schauplätzen auf, nämlich dem umkämpften Troja (inklusive Trug-Gaul und Hektors Schatten) sowie dem idealisierten Karthago (samt einer den Liebestod erleidenden Königin Dido). Dass dabei weder Menschen noch Maschinen geschont werden, liegt auf der Hand; überdies zählen «Les Troyens» zu den anspruchsvollsten Choropern des Repertoires.

Kultiviert und farbig

Anders als zuletzt in Hamburg, wo sich Kent Nagano und Georges Delnon bei ihrem Einstand 2015 mit einer auf dreieinhalb Stunden verdichteten Spielfassung begnügten, geht die Oper Frankfurt bei ihrer Neuproduktion buchstäblich aufs Ganze – ein Wagnis, das sich vor allem musikalisch auszahlt. Denn am Pult im vollbesetzten Frankfurter Graben – mit allein sechs Harfen, massivem Schlagwerk und allerlei Berlioz-typischen Sonderformen in der Bläsergruppe – steht der amerikanische Dirigent John Nelson, einer der besten Berlioz-Kenner der Gegenwart.

Unter Nelsons Leitung wächst das hiesige Museumsorchester, seit langem eine erste Adresse im Opernbereich, noch über sich hinaus – namentlich, was die Kultiviertheit und die Farbigkeit des Spiels betrifft. Dieser Berlioz wird nicht im Mindesten auf Effekt getrimmt; er «knallt» nicht, wie es so leicht auch bei undifferenzierten Wiedergaben der «Symphonie fantastique» passiert. Bei Nelson darf die Musik atmen und sich vor allem dank den vorzüglichen Holzbläsern in ihrem ganzen instrumental-poetischen Zauber aussingen.

Im Gegenzug nimmt Nelson die dramatischen Höhepunkte etwas zurück – er weiss, dass Schlüsselmomente wie der kollektive Freitod der Trojanerinnen am Ende des ersten Teils («La Prise de Troie») oder Didos unversöhnlicher Verzweiflungsfluch gegen Aeneas, den ungetreuen Ahnherrn Roms, auch ohne Fortissimo-Pathos wirken. Dies umso mehr, als Berlioz nicht wie Wagner in weiten dramaturgischen Entwicklungsbögen, sondern stets und überall mit brennender Feder komponiert hat. Es ist diese Intensität – leuchtend, klangsinnlich, nie vordergründig laut –, die den langen Abend trägt, ohne nennenswerte Einbrüche in der Spannungskurve. Das ist nicht zuletzt deshalb bemerkenswert, weil sich die Regie von Eva-Maria Höckmayr an Berlioz' Antiken-Koloss verhebt.

Grosse Tragödinnen

Wie Michael Thalheimer in Hamburg versucht Höckmayr das stationenreiche Drama durch wiederkehrende Bühnenabläufe zu strukturieren. Das Hin und Her der drei Einheitsräume, die Jens Kilian auf mehrere überlagerte Drehelemente gewuchtet hat, wirkt allerdings rasch vorhersehbar. Auch die Personenführung bleibt mutlos, zumal bei den ausgezeichneten Chören. Das ist doppelt schade, weil die Oper Frankfurt mit Tanja Ariane Baumgartner (Kassandra) und Claudia Mahnke (Dido) beide tragenden Frauenrollen mit grossen, durch und durch glaubhaften Tragödinnen besetzen kann – und das aus dem eigenen Ensemble! Nur leider verblasst neben ihnen nahezu alles andere.