1. Startseite
  2. Kultur

„La bohème“ im Schneetreiben

KommentareDrucken

Leise rieselt der Schnee aus dem Computer, derweil Rodolfo (Luciano Ganci) sich in Mimì (Shelley Jackson) verliebt.
Leise rieselt der Schnee aus dem Computer, derweil Rodolfo (Luciano Ganci) sich in Mimì (Shelley Jackson) verliebt. © Anna-Maria Löffelberger

Salzburg - Es ist eine ihrer letzten Produktionen, bevor sie Richtung Birmingham und Los Angeles entschwindet: Am Salzburger Landestheater dirigiert Mirga Gražinytė-Tyla „La bohème“ von Giacomo Puccini. Lesen Sie hier unsere Kritik:

Der Blick aufs Thermometer bringt Gewissheit und auch der in die Foyers. Drei Grad draußen, drinnen pragmatische Eleganz statt Smoking und Klunker: Nein, es sind tatsächlich keine Festspiele in Salzburgs Haus für Mozart. Trotzdem klingt es so. Vier Monate noch darf sich das dortige Landestheater und mit ihm sein begeistertes Publikum an der Chefdirigentin laben. Ein Doppelprojekt über den litauischen Komponisten Bronius Kutavicius in Mai und Juni, aktuell der Hit „La bohème“, diese beiden Produktionen betreut Mirga Gražinytė-Tyla in ihrer verbleibenden Zeit, dann ist sie endgültig entschwunden Richtung Birmingham und Los Angeles zu ihren dortigen Positionen.

Überwältigungstaktik ohne Buttercreme-Schlacht

Zuvor lernt man, wie man Puccini serviert. Es gibt tatsächlich, Mirga Gražinytė-Tyla führt es mit dem Mozarteum-Orchester vor, eine Überwältigungstaktik ohne Buttercreme-Schlacht. Muskulöses, Athletisches, Präzises dringt aus dem Graben. Die Phrasen erobern sich weit ausschwingend Raum, behalten aber genau umrissene Kontur. Die vielen, auch überraschenden Details fügen sich wie selbstverständlich ein. Trennscharf liegen die Klangebenen bloß, werden parallelisiert, zusammengeführt, übereinander geblendet, jedoch nie verwischt. Lyrisches bedeutet nie Larmoyanz, sondern ist ebenso spannungsvoll erfüllt wie die große Geste. So flexibel, so genau, so bewusst gestaltet wünscht man sich (nicht nur) Puccini eigentlich immer. Gut, einiges ist zu laut, zu knallig. Das mag an der Akustik der nicht alltäglichen Spielstätte liegen. Ab und zu darf das Team des Landestheaters ja zum großen Bruder, also in die Festspielhäuser. Das Haus für Mozart lädt wohl dazu ein, endlich mal loszulassen, egal – ein, zwei gefährdete Spitzentöne der Sänger werden dabei sogar gnädig ummäntelt.

Für den Betriebsausflug in der eigenen Stadt spendiert das Haus hervorragende Kräfte. Luciano Ganci (Rodolfo) kommt im Forte erst richtig auf Betriebstemperatur, Shelley Jackson (Mimì) ist mit ihrem apart dunklen, leicht ansprechenden Sopran wohl lyrischer, als sie es sich selbst manchmal denkt. Beiden wird – vokal und im Spiel – fast die Schau gestohlen vom Pracht-Marcello des David Pershall. Und auch Hailey Clark ist keine spitze, kalte Musetta, sondern könnte fast eine Rivalin Mimìs sein. Gerne hätte man in der Aufführung mehr gewusst von diesen jungen Menschen, denen es, Andreas Gergen legt das nahe, so schlecht gar nicht gehen kann.

Ab in den Nachtclub

Der Regisseur und Operndirektor des Landestheaters verpasst mit Kostümbildnerin Regina Schill den Bohémiens passable Klamotten von heute. Statt ins Notizbuch zu kritzeln, tippt Rodolfo seine Einfälle ins Apple-Notebook, während der dunklen Pariser Stunden geht’s in den Nachtclub: Offenbar überweisen Papa und Mama die Privatstipendien regelmäßig auf die Konten ihrer munteren Früchtchen. Um das Engagement der international gefragten Videokünstler von fettFilm zu rechtfertigen (auch als Bühnenbildner!), gibt es Mimì als Großeinblendung, dazu schöne, raffiniert flackernde Projektionen auf den Fassaden. Immer wenn’s kalt, arm und krank wird, rieselt leise der virtuelle Schnee.

Beats stampfen aus einem Lautsprecher

Das Personal wird von Gergen versiert und gut beschäftigt, vieles bleibt illustriert. Die Fallhöhe des Stücks freilich, die Tragik gerade am Ende, wenn Rodolfo dem Sterben seiner Mimì hilflos und verdrängend beiwohnt, erschließt sich kaum. Ein paar Brechungen gibt es, zwischen gespenstischer Mahnung und juveniler Aufgekratztheit.

Mirga Gražinytė-Tyla
Mirga Gražinytė-Tyla © Philipp Zinniker

Der Chor bevölkert wie eine Trauergesellschaft aus dem 19. Jahrhundert die Bühne. Vor Beginn müssen Twens in Weiß und mit Kopfhörern 20 Minuten lang abtanzen. Immer wieder kehren Letztere zurück, auch im Café-Bild. Dort marschiert keine Musikkapelle partiturgemäß durchs Bild, dafür stampfen Beats im selben Rhythmus aus einem Lautsprecher. Ein, maximal zwei Karriereumdrehungen weiter, und solche Eingriffe dürften an Mirga Gražinytė-Tyla abprallen.

Auch interessant

Kommentare