Misstraut der Demokratie!

Calixto Bieito und Franck Ollu führen eine eigenwillige und aufrüttelnde Interpretation der «Orestie» von Aischylos mit Musik von Xenakis vor. Das Musiktheater führt mitten in die Gegenwart.

Thomas Schacher
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Eine Spirale von Mord und sexueller Gewalt – die «Oresteia» von Iannis Xenakis am Theater Basel. (Bild: Sandra Then)

Eine Spirale von Mord und sexueller Gewalt – die «Oresteia» von Iannis Xenakis am Theater Basel. (Bild: Sandra Then)

In einem Wald steigen zwei Personen aus einem Auto: ein kahlköpfiger Mann und ein Mädchen mit gelockten Haaren. In der tonlosen Szene (Video: Sarah Derendinger) führt der Mann das Mädchen in das Dickicht, erdrosselt es, legt es auf den Boden, bedeckt es mit einer Decke und zündet es an. Der Mann ist der mykenische König Agamemnon, das Mädchen seine Tochter Iphigenie. Warum hat er sie umgebracht? Das wird in dem Stück nicht erklärt; man muss es aus der griechischen Mythologie kennen: Die beleidigte Göttin Artemis forderte das Opfer, damit den Griechen die Weiterfahrt ihrer Schiffe nach Troja ermöglicht wurde.

Die mörderische Videoszene eröffnet die Aufführung des Musiktheaterstücks «Oresteia» nach der «Orestie» von Aischylos mit Musik von Iannis Xenakis am Theater Basel. Es handelt sich um eine Kooperation der Schauspiel- und der Opernabteilung des Dreispartenhauses. Da gibt es zum einen die im fünften vorchristlichen Jahrhundert geschriebene Tragödientrilogie von Aischylos. Sie vergegenwärtigt den Fluch, der auf dem Hause der mykenischen Könige lastet. Agamemnon ermordet Iphigenie, seine Frau Klytaimnestra rächt sich, indem sie Agamemnon nach seiner Rückkehr vom Trojanischen Krieg umbringt. Und Orestes rächt den Vatermord, indem er die Mutter tötet.

Komposition aus drei Teilen

Doch hier endet der Fluch: Orest wird vor ein Gericht attischer Bürger gestellt – und dank dem Stichentscheid der Göttin Athene freigesprochen. Für die Basler Produktion haben der Regisseur Calixto Bieito und das Dramaturgenteam des Theaters Aischylos' Text massiv gekürzt. Die Neuübersetzung des griechischen Originals besorgte Kurt Steinmann.

Was die Musik betrifft, besteht Iannis Xenakis' Komposition aus drei Teilen: Den schon 1966 vollendeten Hauptteil «Oresteia» hat er 1987 um das Stück «Kassandra» und 1992 um «Die Göttin Athene» erweitert. In der Aufführung des Theaters Basel werden die Stücke ineinander verzahnt und ergeben, insbesondere durch die Perkussion, durchaus eine musikalische Einheit. Was den gebürtigen Griechen Xenakis primär interessierte, war nicht die Schöpfung eines modernen Musiktheaters, sondern die Erweckung der altgriechischen Tragödie mit den künstlerischen Mitteln seiner Zeit. Dass in der attischen Tragödie die Musik eine wichtige Rolle spielte, ist bekannt, aber wie das geklungen hat, weiss heute niemand.

Altgriechisch inspiriert

Eine wichtige Rolle spielt bei Xenakis der Chor, der in altgriechischer Sprache singt. Bieito bezieht den Chor des Theaters Basel wirkungsvoll in das Geschehen ein. Als einzige Gesangsrolle mimt Holger Falk sowohl die Kassandra wie auch die Göttin Athene mit der Virtuosität einer rezitierenden Stimme, die sich in höchste Falsettlagen aufschwingen kann. Das Kammerorchester der Sinfonietta Basel besteht, mit Ausnahme eines Cellos, aus lauter Blas- und Perkussionsinstrumenten. Unter der klar konturierten Leitung von Franck Ollu bringen Choristen und Instrumentalisten mit ihrer Einstimmigkeit, ihrer Heterofonie, ihrem rezitierenden Gestus und ihren archaischen Rhythmen eine Musik zustande, die wir durchaus mit «altgriechisch» verbinden.

Die Hauptfiguren der Tragödie werden von Schauspielern dargestellt, die ihre Texte auf Deutsch sprechen. Agamemnon (Simon Zagermann), Klytaimnestra (Myriam Schröder), Orestes (Michael Wächter), Elektra (Lisa Stiegler) und Aigisthos (Steffen Höld) setzen die Spirale von Mord und sexueller Gewalt mit beängstigender Folgerichtigkeit um. Calixto Bieito, der auch für die Bühne verantwortlich zeichnet, lässt sie auf einem archaisch anmutenden Bretterboden spielen. Der Kostümbildner Ingo Krügler vermeidet indes antike Gewänder und lässt die Figuren in stilisierter Kleidung spielen. Und auf der Bühnenrückwand spukt immer wieder, als Stein des Anstosses, das Gesicht des Mädchens Iphigenie ins Geschehen hinein.

Demagogen und blinde Bürger

Calixto Bieitos Deutung zeigt sich erst in der finalen Abstimmungsszene in ihrer ganzen Radikalität: Orestes heftet den Choristen – die plötzlich in Kleidern wie zu Zeiten der Einführung des schweizerischen Frauenstimmrechts stecken – ihre Stimmzettel an die Stirnen, so dass sie nichts mehr sehen können. Aigisthos tritt derweilen als Demagoge auf und hetzt das Volk auf der Bühne und auch die Zuschauer im Parkett gegen Orestes auf. Schliesslich hat dieser seine Buhle Klytaimnestra umgebracht.

Orest hat schon zuvor einige Bretter des Fussbodens, auf dem all die Morde und Vergewaltigungen stattgefunden haben, zu einem Haufen aufgeschichtet. Er packt nun die leere gläserne Urne, tritt auf das oberste Brett, das bedrohlich zu wackeln beginnt, und schleudert die Urne zu Boden, dass sie zerbirst. Ende, Licht aus.

Calixto Bieito misstraut der Demokratie zutiefst. Sie erscheint bei ihm nicht, wie bei Aischylos, als geschichtliche Stufe des Fortschritts, sondern als eine Staatsform, in der blinde Bürger von Demagogen aufgewiegelt werden. Ein Blick in die realen Demokratien von heute bestärkt diese Sicht.