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Musiktheater
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The Gospel According to the Other Mary

Opern-Oratorium in zwei Akten
Libretto zusammengestellt von Peter Sellars mit Texten aus dem Alten und dem Neuen Testament sowie Texten von Dorothy Day, Louise Erdrich, Primo Levi, Rosario Castellanos, June Jordan, Hildegard von Bingen und Rubén Dario
Musik von John Adams


in englischer Sprache mit deutschen Übertiteln

Aufführungsdauer: ca. 3h (eine Pause)

Koprodunktion mit der English National Opera London (Uraufführung dort am 1. November 2014)
Premiere im Opernhaus Bonn am 26. März 2017


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Theater Bonn
(Homepage)

Eine Passion für die Unterdrückten und Gefolterten dieser Welt

Von Stefan Schmöe / Fotos von Thilo Beu


Die Inhaltsangabe - eine Täuschung. Auf vier Programmheftseiten gaukelt sie vor, man sehe eine handlungsreiche Passionsoper, bei der die Leidensgeschichte Jesus' in die kriegerische Gegenwart des Nahen Ostens transformiert sei. Man sollte einen Blick auf den Verfasser dieses Textes werfen: Das ist Peter Sellars, nicht nur Regisseur dieser Uraufführungs-Produktion (die 2014 an der English National Opera zu sehen war und jetzt nach Bonn übernommen wird), sondern auch Librettist von The Gospel According to the Other May - oder besser: Arrangeur, denn beim Libretto dieser Oper hat er Texte der Schriftstellerinnen Louise Endrich (*1954), Dorothy Day (1897 - 1980), June Jordan (1936 - 2002) und Rosario Castellanos (1926 - 1974), allesamt dem amerikanischen Feminismus nahe stehend, sowie (u.a.) von Hildegard von Bingen und Primo Levi neben Bibelstellen aus dem Alten wie Neuen Testament montiert. Letztere reichen von der Erweckung des Lazarus bis zur Kreuzigung und (angedeuteten) Auferstehung. Schon beim Lesen dieser Zusammenstellung ergibt sich kein klares Handlungsgerüst, erst recht nicht auf der Bühne. Die auf den ersten Inhaltsangaben-Blick traditionell narrative Handlungsstruktur bleibt ein Assoziationsrahmen, den man mitdenken kann (aber nicht muss).

Szenenfoto

Es ist auch keineswegs so, dass Komponist John Adams diese Texte in konventioneller Opernmanier streng auf verschiedene Rollen verteilt hat. Zwar gibt es solche laut Besetzungszettel, und Mary und Martha, schon weniger Lazarus, sind einigermaßen scharf umrissene Figuren, aber mehr Prototypen denn als real Handelnde, und der erzählende (nicht dramatisch auf verschiedene Rollen verteilte) Text wird abwechselnd auf die Sänger verteilt. Und auch auf den Chor und auf drei Countertenöre, späte Nachfahren der Zauberflöten-Knaben oder auch eine Ahnung der Dreifaltigkeit, auch wenn sie in tarnfarbfleckigen Pullovern gar nicht heilig aussehen (das gehört zum Sellarschen Vieldeutigkeitsrepertoire), aber mit ihrem spezifischen Klang eine ganz eigene entrückte Aura besitzen. Eine Christus-Figur dagegen gibt es nicht. Von der minimal music hat Adams den flächigen, innerhalb der einzelnen Szenen kaum Entwicklung durchlaufenden Aufbau und die Strukturierung durch kurze Klangfiguren wie auch den Verzicht auf Melodieführung und klare Entwicklungsharmonik, "minimalistisch" aber wird man die ungeheuer farbreiche und klangmächtige Partitur nicht nennen wollen. Adams fordert vom Zuhörer durchaus Geduld, er lässt sich Zeit, wirkt im ersten Akt nach der Erweckung des Lazarus auch allzu weitschweifig, aber es ist schon große, beeindruckende Musik, die hier zu hören ist.

Szenenfoto

The Other Mary, das spielt auf Maria Magdalena an, ist aber wohl allgemeiner zu verstehen: Ein handfester Gegenentwurf zur entrückten Jungfrau Maria, der das Heil nicht im flüchtigen Jenseits sucht, sondern kämpferisch im irdischen Diesseits. Liebe (auch sexuelle, was in dieser Oper aber keine konkrete Rolle spielt) bezieht sich auf andere Menschen, und damit wird die Passion nicht zur Erlösungsbotschaft, sondern zur ins Politische gewendete Parabel auf die Unterdrückten. In mancher Hinsicht steht das einem politisch denkenden Komponisten wie Luigi Nono näher als einem Johann Sebastian Bach, der mit seinen Passionen freilich das formale Vorbild liefert. Mary, Martha und Lazarus laufen in Alltagskleidung herum (Kostüme: Gabriel Berry), die Choristen auch (allerdings mit folkloristischen Flower-Power-Einschlag). Die Bühne ist höchst eindrucksvoll in sandfarbenen Leinentüchern eingeschlagen, aus denen ein paar Beleuchtungsmasten hervorragen und ein stacheldrahtbewehrter Zaun auf Lager in Syrien oder Nachbarstaaten verweist. Zwei große Pappkisten (so verstärkt, dass man auch hinaufspringen und dort tanzen kann) liegen auf der Bühne, und im Hintergrund sieht man immer wieder Ausschnitte eines Männertorsos, raffiniert überblendet: Eine Pietá ohne Gottesmutter, zumindest ohne sichtbare. Es sind ganz starke Bilder, die das Regieteam (man muss unbedingt James F. Ingalis, der für das Licht verantwortlich ist, hinzuzählen) hier aufbietet.

Szenenfoto

Sellars, der ja auch schon die Bach'schen Passionen (halb-)szenisch gedeutet hat, zeigt ein großes Ritual, bei dem immer wieder zwei Tänzerinnen und zwei Tänzer (ungemein ausdrucksstark: Iamnia Montalvo Hernandez, Carmen Canas, Keisuke Mihara und Erik Constantin) den Sängern zur Seite stehen oder ganz im Mittelpunkt stehen (so bei der pantomimisch angedeuteten Kreuzanschlagung). Sellars verweigert Eindeutigkeit, belässt es bei einzelnen Gesten, oft von großer Zärtlichkeit, manchmal auch von Gewalt. Bei aller Sympathie für die Unterdrückten und Gefolterten bleiben Adams und Sellars bei einer bewussten künstlerischen und ästhetischen Unschärfe, wobei der sanfte Schluss mit fernen Parsifal-Anklängen (jedenfalls erinnert der klangliche Gestus daran) mit der Auferstehungs-Botschaft ein Zeichen der Hoffnung setzt.

Szenenfoto

Musikalisch liefert die Bonner Oper eine Großtat, wobei ein oder zwei weitere Proben nicht geschadet hätten - dem alles in allem famosen Chor (Einstudierung: Marco Medved) sieht man bei den ihm abgeforderten choreographischen Gesten, die häufig noch einigermaßen unpräzise ablaufen, noch eine Restunsicherheit an; dass hier und da ein Einsatz wackelt, fällt angesichts der fulminant kraftvollen Gestaltung der anspruchsvollen Chorpartie kaum ins Gewicht. Auch das Beethoven Orchester hat unter der Leitung der jungen australischen Dirigentin Natalie Murray Beale hier und da noch kleine Wackler, aber vieles gelingt ganz ausgezeichnet. Hervorragend sind die Solisten: Die großformatigen Mezzo-Sopranistinnen Christin-Marie Hill als Mary und Ceri Williams als Martha und Ronald Samm mit metallisch strahlendem Tenor und einer swingenden rhythmischen Ungenauigkeit, die bestens zu der Musik passt und eine Ahnung von Gospel mitbringt. Dazu kommen die drei wundersamen, bestens harmonierenden Countertenöre Benjamin Williamson, Russell Harcourt und William Towers.


FAZIT

Musikalisch wie szenisch tolle Produktion eines faszinierenden Werkes.




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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Natalie Murray Beale

Inszenierung
Peter Sellars

Bühne
George Tsypin

Kostüme
Gabriel Berry

Szenische Einstudierung
Elaine Tyler-Hall

Licht
James F. Ingalls

Sounddesign
Mark Grey

Chor
Marco Medved


Chor des Theater Bonn

Beethoven Orchester Bonn


Solisten

Mary Magdalene
Christin-Marie Hill

Martha
Ceri Williams

Lazarus
Ronald Samm

Countertenöre
Benjamin Williamson
Russell Harcourt
William Towers

Tänzerinnen und Tänzer
Iamnia Montalvo Hernandez
Carmen Cañas
Keisuke Mihara
Erik Constantin



Weitere
Informationen

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Theater Bonn
(Homepage)



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