Violettas Ein-Frau-Performance

Nicole Chevalier beeindruckt in der Titelrolle von Giuseppe Verdis «La Traviata» am Luzerner Theater – in einer ungewöhnlich verdichteten Fassung, die bereits andernorts für Furore gesorgt hat.

Felix Michel, Luzern
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Sehnsucht nach dem unsichtbaren Geliebten Alfredo: Nicole Chevalier als Violetta Valéry in Verdis «La Traviata» (Bild: Ingo Höhn / Luzerner Theater)

Sehnsucht nach dem unsichtbaren Geliebten Alfredo: Nicole Chevalier als Violetta Valéry in Verdis «La Traviata» (Bild: Ingo Höhn / Luzerner Theater)

So einfach wie schlagend ist der Grundgedanke, den Benedikt von Peter seiner «Traviata»-Inszenierung zugrunde legt: Er macht die Oper zur Ein-Frau-Performance, in der allein die Titelfigur Violetta Valéry auf der Bühne agiert – szenisch eingekeilt zwischen dem Zuschauerraum, woher die Stimmen der übrigen Figuren zu vernehmen sind, und dem Orchester, das ihr hinter einem Gazevorhang buchstäblich im Nacken sitzt.

Diese Lesart soll Violettas Verlorenheit ins Psychotische radikalisieren, ihre Liebessehnsucht als Wahn entlarven. Der Regisseur hat damit 2011 an der Staatsoper Hannover für Aufsehen gesorgt. Später hat er die Inszenierung auch in Bremen präsentiert und sie nun nach Luzern mitgebracht, wo von Peter seit Beginn der Spielzeit als Intendant wirkt.

Mit jeder bebenden Faser

Da die Produktion nachvollziehbar eng an die zentrale Sängerdarstellerin gekoppelt ist, verkörpert wiederum die – mittlerweile an der Komischen Oper Berlin engagierte – Sopranistin Nicole Chevalier die Violetta. Zum Glück! Denn sie tut es in einem stupenden Parforce-Akt: Zweieinhalb pausenlose Stunden lang leiht Chevalier der von ihrer Liebesobsession getriebenen Violetta Stimme und Körper –mit jeder bebenden Faser.

Das Erstaunlichste dabei ist, dass die vokale Darstellung darunter nie leidet. Ihre agile und fokussierte, eher konsonantenbetonte, dafür transparente Gestaltung braucht den Vergleich mit berühmten Vorgängerinnen nicht zu scheuen. Kein Wunder also, dass sich die Spannung am Ende in euphorischem Applaus entlädt. Und so könnte diese Rezension eigentlich schliessen. Wen diese Versuchsanordnung reizt, dem sei die Reise nach Luzern nur empfohlen.

Wenn Violetta/Chevalier aber beispielsweise während ihres – wirklich schön und rührend gesungenen – «Addio del passato» virtuos durch die Sitzreihen des Parketts kraxelt, mag sich in die Bewunderung dennoch die Frage mischen: Warum eigentlich tut sie dies? So packend und griffig das Regiekonzept zunächst anmutet, so diffus bleibt es bei genauerer Betrachtung.

Weder die metapoetische Volte (wonach sich auch die Sängerin wie die von ihr gespielte Kurtisane in gewissem Sinne preisgebe) noch die angestrebte diagnostische Stossrichtung (als Kritik der von der Illusion romantischer Liebe liebesunfähig gemachten Gegenwart) vermögen vollends zu überzeugen, so nachdrücklich das Programmheft sie auch formuliert.

Rampen-Performance?

Paradoxerweise nähern sich sowohl die wirbelnde Hauptfigur als auch die im Dunkeln bleibenden restlichen Rollen in ihrer je eigenen szenischen Unverbindlichkeit einer längst überwunden geglaubten Unsitte an: dem Rampensingen. Die altbackenen händeringenden Sängergesten sind nun einfach durch das Vokabular der Performance ersetzt – panische Blicke, konvulsivische Bewegungen, regelmässiges Wechseln der spärlichen Kleider, hie und da ein Möbelwurf.

Nicole Chevalier in der Titelrolle von Giuseppe Verdis «La Traviata» (Bild: Ingo Höhn / Luzerner Theater)

Nicole Chevalier in der Titelrolle von Giuseppe Verdis «La Traviata» (Bild: Ingo Höhn / Luzerner Theater)

Hier droht zudem das Klischee, und die vordergründige Radikalität gerät in den Verdacht, den Herausforderungen des Werkes auszuweichen: Verdis lärmige Festszenen und stillen Zwiegespräche brauchen nicht realisiert zu werden; und indem gleich die ganze Handlung zum Phantasma erklärt wird, verliert sie alle Sperrigkeiten einer uns fremd gewordenen vergangenen Welt. Nicht zufällig entfällt beispielsweise die Spielszene im zweiten Akt ganz.

Die Idee, ein «Monologisches» in der Oper freizupräparieren, steht zudem in Widerspruch zu einer der grössten Qualitäten von Verdi und seinem Librettisten Francesco Maria Piave: zu der Fähigkeit nämlich, Zwischenmenschliches zu durchleuchten. Bezeichnenderweise entfalten gerade die grossen mehrteiligen Szenen, etwa das grandios komponierte Duett zwischen Violetta und Germont, einen dramatischen Sog und eine erzählende Dringlichkeit, die dem Regiekonzept gänzlich zuwiderlaufen – was seine am Ende eben doch begrenzte Ergiebigkeit offenbart.

Sinfonischer Ernst

Ihre Kraft beziehen jene Szenen auch aus der sorgfältigen musikalischen Disposition. Der Dirigent Clemens Heil wählt oft eigenwillig gemessene, dank den filigran spielenden Streichern dennoch spritzig klingende Tempi, die sich als Ausgangspunkt durchdachter Steigerungen entpuppen. Bald mischt er dosierte Blechbläser-Wärme bei, bald lässt er die tiefen Streicher «sul tasto» spielen, und insgesamt wird Verdis mitunter derber Opernmusik ein äusserst reizvoller sinfonischer Ernst der Gestaltung zuteil.

Claudio Otelli singt (zur Rolle passend) einen anfangs etwas raubeinigen Germont, Diego Silva als Alfredo glänzt als auffallend stimmschöner Tenor, der ungeniert, aber sehr geschmackvoll in der Belcanto-Tradition seines Fachs steht; und aufhorchen lässt nicht zuletzt der von Mark Daver vorbereitete Chor. Auch dafür lohnt sich eine Reise nach Luzern.